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Leitzinsen und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft

Die von der Europäischen Zentralbank (EZB) festgesetzten Leitzinsen sind 2022 und 2023 zwar stark gestiegen, ihre Funktionsweise und ihre Auswirkungen sind jedoch für einige Kunden und Anleger immer noch ein Rätsel. Lionel De Broux, Chief Investment Officer bei der BIL, erläutert die Funktionsweise der Leitzinsen und ihre Konsequenzen für Ihre Darlehen und Ersparnisse.

Herr De Broux, wie definiert man einen Leitzins?

Der Leitzins ist ein von einer Zentralbank festgelegter Zinssatz. Dieser Satz gilt für Darlehen, die die Zentralbank an Geschäftsbanken vergibt. Der Leitzins hat Einfluss auf den Zinssatz, zu dem diese Bankinstitute dann Geld an Kunden und Investoren verleihen, seien es Privathaushalte oder Unternehmen. Doch er wirkt sich nicht nur auf Darlehen, sondern auch auf Einlagen aus.

Welches sind die wichtigsten Arten von Leitzinsen?

In der Eurozone gibt es nicht nur einen, sondern drei Leitzinssätze. Da wäre zunächst der Einlagesatz. Geschäftsbanken können überschüssige Liquidität bei der EZB hinterlegen und bekommen dafür eine Vergütung, deren Höhe durch diesen Zinssatz festgelegt ist.

Dann gibt es den Hauptrefinanzierungssatz, zu dem sich Banken gegen von ihnen als Sicherheit hinterlegte Wertpapiere für eine Woche Geld bei ihrer Zentralbank ausleihen können.

Schließlich gibt es noch den Spitzenrefinanzierungssatz, den die Zentralbank anwendet, wenn eine Geschäftsbank kurzfristigen (overnight) Liquiditätsbedarf hat. Hierbei handelt es sich um ein Sicherheitssystem für die Geschäftsbanken, weil es ihnen jederzeit Liquidität zu einem Zinssatz garantiert, der etwas höher ist als der Hauptrefinanzierungssatz.

In der Eurozone gibt es nicht nur einen, sondern drei verschiedene Leitzinssätze: den Einlagesatz, den Hauptrefinanzierungssatz und den Spitzenrefinanzierungssatz.

Welche Rolle spielen die Leitzinsen für die Wirtschaft?

Wenn wir Geld mit Wasser vergleichen wären die Leitzinsen der Wasserhahn, mit dem die Menge des Wassers gesteuert wird, die in die Realwirtschaft fließt. Denn die Leitzinsen sind ein Instrument der Geldpolitik, deren Ziel es ist, die Wirtschaft zu regulieren, indem Haushalte und Investoren dazu angeregt oder davon abgehalten werden, bei Banken Geld auszuleihen beziehungsweise anzulegen. Die Leitzinsen ermöglichen also, die Geldschöpfung zu steuern, aber auch in bedeutendem Maße den Konsum der Wirtschaftsakteure und damit die Inflation zu beeinflussen.

Wie und von wem werden die Leitzinsen festgesetzt? Worauf beruhen die Entscheidungen?

Die Leitzinsen hängen von den wirtschaftlichen Zielen ab, die von den Zentralbanken gesetzt wurden. In der Regel sind das zwei Ziele, nämlich die Wirtschaftstätigkeit aufrechtzuerhalten und die Inflation einzudämmen. In Europa hat die Europäische Zentralbank (EZB) hingegen nur ein einziges Ziel. Sie muss für Preisstabilität sorgen oder mit anderen Worten den Wert des Euro sichern.

In der Eurozone ist die EZB für die Umsetzung der Geldpolitik zuständig, und sie setzt alle sechs Wochen im Anschluss an Sitzungen, an denen die Zentralbankvertreter der verschiedenen Mitgliedsländer beteiligt sind, die Leitzinsen fest. Auf diesen Sitzungen wird abhängig von den Prognosen für die Entwicklung von Wirtschaft und Inflation entschieden, ob die Zinssätze geändert werden oder nicht.

Seit 2008 sind die Leitzinsen für lange Zeit auf einem besonders niedrigen oder sogar negativen Niveau geblieben, um die Wirtschaft zu unterstützen, die unter mehreren Krisen zu leiden hatte (Bankenkrise, Eurokrise usw.). Schließlich kam es ab der zweiten Jahreshälfte 2022 zu einem bedeutenden Zinsanstieg. In der Vergangenheit gab es bereits Zyklen, in denen die Zinsen stiegen, als die Wirtschaft sich überhitzte und die Inflation anzog. Diese Zyklen traten in den vergangenen 30 Jahren wiederholt auf.

Seit der Einführung des Euro sind so schnell aufeinanderfolgende Zinsanhebungen wie in den Jahren 2022 und 2023 eine Premiere.

Doch seit der Einführung des Euro sind so schnell aufeinanderfolgende Zinsanhebungen wie in den Jahren 2022 und 2023 eine Premiere. Sie sind ein Spiegel der Inflation, die wir aufgrund der Lieferkettenprobleme und des Höhenflugs der Rohstoff- und Energiepreise infolge der Coronakrise und des Kriegs in der Ukraine erlebt haben. Im September 2023 haben wir übrigens mit einem Zinssatz von 4% ein Rekordniveau erreicht.

Wie können sich Leitzinsänderungen auswirken?

Um die Ziele der Zentralbanken zu erreichen, muss man auf die Wirtschaft einwirken. Wenn die Zentralbank die Leitzinsen anhebt, sind die Geschäftsbanken eher dazu geneigt, Barmittel bei ihr in Verwahrung zu geben und weniger Geld zu verleihen. Grundsätzlich führt ein Anstieg der Zinsen zu einer Reduzierung von Krediten, verstärktem Sparen und somit zu einem Rückgang von Konsum und Investitionen. Dieser Rückgang von Investitionen führt normalerweise zu einer Konjunkturabschwächung und bietet somit dem Preisanstieg Einhalt.

Umgekehrt veranlassen niedrige Leitzinsen die Banken dazu, ihre liquiden Mittel nicht in Verwahrung zu geben und mehr an ihre Kunden zu verleihen. Sinkende Geldkosten verleihen damit Krediten und Konsum Auftrieb. Dieser Anstieg der Nachfrage kurbelt die Konjunktur an und treibt die Preise in die Höhe.

2022 und 2023 war ein starker Anstieg der Inflation aufgrund von Befürchtungen einer Rohstoffknappheit zu verzeichnen. Dies hat die Zentralbanken dazu veranlasst, ihre Leitzinsen anzuheben, um die Wirtschaft zu bremsen und den Preisanstieg zu stoppen oder sogar einen Preisrückgang auszulösen.

Welchen Horizont fasst die EZB derzeit ins Auge?

Bei der Geldpolitik besteht die Herausforderung der EZB darin, die Inflation bei etwa 2% zu halten (im Mai 2024 lag die Rate bei 2,6%). Um das zu erreichen, hat sie sich für eine Anhebung der Leizinsen entschieden. Aufgrund des zeitlichen Versatzes (von 18 bis 24 Monaten) zwischen der Umsetzung dieser Politik und ihrer Wirkung, sind die genauen Auswirkungen der Anhebung noch nicht ersichtlich. Es braucht immer eine gewisse Zeit, bis sich die Investitions- und Konsumgewohnheiten an die neuen finanziellen Bedingungen anpassen.

Bei der aktuellen Inflation, die in Richtung des Ziels von 2% tendiert, können die Zentralbanken beginnen, über Zinssenkungen nachzudenken – stets mit Blick auf eine Eindämmung der Inflation, ohne die Konjunktur übermäßig zu bremsen. Die EZB hat übrigens am 6. Juni 2024 eine erste Senkung um 0,25% vorgenommen. Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass wir wahrscheinlich nicht zu den außergewöhnlich niedrigen Zinssätzen zurückkehren werden, die es in der jüngeren Vergangenheit gegeben hat.

Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass wir wahrscheinlich nicht zu den außergewöhnlich niedrigen Zinssätzen zurückkehren werden, die es in der jüngeren Vergangenheit gegeben hat.

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Tags: Anlegerprofil Investitionen Profil d'investisseur Sparen

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