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Dezember 22, 2024

Anlagen: Unsicherheit als neuer Normalzustand

  Gesammelt von myLIFE team myINVEST Juli 19, 2024 865

In den letzten 30 Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Wirtschaft in großen Teilen der Welt von niedrigen Inflationsraten und Zinssätzen, steigenden Aktienmärkten und Wachstum geprägt. Aber ist die Zeit der „Großen Mäßigung” angesichts der Verlangsamung der Globalisierung und des Welthandels, dem Kampf der Zentralbanken gegen die Inflation und einem schwachen Wachstum in vielen Ländern inzwischen vorbei?

Wenn sich das wirtschaftliche Umfeld heute besonders turbulent anfühlt, liegt das vielleicht daran, dass die letzten Jahrzehnte im historischen Vergleich nicht der Normalität entsprachen. Der als „Große Mäßigung“ (Great Moderation) bezeichnete, drei Jahrzehnte währende Zeitraum ab Anfang der 1990er-Jahre war von wirtschaftlichem Wachstum, extrem niedriger Inflation und niedrigen Zinsen sowie größtenteils steigenden Aktienmärkten geprägt (abgesehen von einigen Sonderfällen wie dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 und der weltweiten Finanzkrise von 2007–2009). Allerdings waren die vergangenen 30 Jahre eher die Ausnahme als die Regel, und Anleger müssen sich heutzutage womöglich an ein anderes Finanz- und Wirtschaftsumfeld gewöhnen.

Warum die Welt über einen so langen Zeitraum relative Stabilität und Wohlstand erfahren hat, hat verschiedene Gründe. Eine Erklärung ist eine bessere Steuerung der Geldpolitik, da die Regierungen den Zentralbanken zunehmend Handlungsspielraum ließen. Dies half, Boom-Bust-Zyklen abzuschwächen, indem Politiker daran gehindert wurden, durch Manipulation der Zinsen zu für den Wahlkampf strategisch günstigen Zeitpunkten ein Wirtschaftswachstum zu bewirken.

Die Deregulierung hat auch zu einer zunehmend flexiblen Weltwirtschaft beigetragen, die so besser auf Schocks reagieren konnte. Bis vor Kurzem ermöglichten die fortschreitende Globalisierung und der Freihandel in vielen Ländern einen höheren Lebensstandard durch günstigere Waren und brachten anderen Ländern zugleich beispiellose Exporteinnahmen ein, insbesondere solchen mit niedrigen Herstellungskosten – allen voran China.

Auch Technologie spielte eine Rolle, wie die US-Notenbank Federal Reserve bestätigt: „Fortschritte in der Informationstechnologie und im Bereich der Kommunikation haben es den Unternehmen wohl ermöglicht, effizienter zu produzieren und ihre Produktionsprozesse wirksamer zu überwachen, sodass Produktionsschwankungen – und damit Schwankungen des realen BIP – verringert wurden.“

Diese Faktoren haben jedoch in den letzten Jahren allmählich an Bedeutung verloren. Zwar sind die meisten Zentralbanken noch immer unabhängig, doch haben die zunehmenden geopolitischen Spannungen und Handelskriege dazu geführt, dass die Globalisierung heute eher im Schritt- statt im Eiltempo vonstatten geht. Der KOF Globalisierungsindex der ETH Zürich zeigt, dass sich die Globalisierung seit 2010 deutlich verlangsamt hat, obwohl sie den Forschern zufolge – noch – nicht rückläufig ist. Das bedeutet, dass sich der ungehinderte Fluss billiger Waren verlangsamt hat.

Zunehmende geopolitische Spannungen und Handelskriege haben dazu geführt, dass die Globalisierung heute eher im Schritt- statt im Eiltempo vonstatten geht.

Technologie übt noch immer einen gewissen deflationären Druck aus, und es ist möglich, dass die künstliche Intelligenz der Produktivität neuen Schub verleihen wird. Doch die größten Produktionssteigerungen liegen womöglich bereits hinter uns. Seit der weltweiten Finanzkrise ist auch die Deregulierung aus der Mode gekommen, da die Aufhebung der langjährigen Beschränkungen der Finanzmarktaktivitäten als Hauptauslöser der Krise gilt.

Auch die Anfang 2020 ausgebrochene Corona-Pandemie spielte eine Rolle. Die Auswirkungen der Lockdowns auf Wirtschaft und Handel führten zu einer größeren Abhängigkeit von Regierungsmaßnahmen und finanzieller Unterstützung für Privatpersonen und Unternehmen und gingen mit einer in Friedenszeiten nie dagewesenen Erhöhung der Staatsausgaben einher. Darüber hinaus haben pandemiebedingte Unterbrechungen der Lieferketten und Produktknappheit viele dazu veranlasst, anstatt der Just-in-Time-Strategie das Just-in-Case-Konzept zu bevorzugen. Auch sind Inflations- und Souveränitätsstrategien seit Corona immer stärker miteinander verknüpft, da die Länder versuchen, ihre Autonomie und Stabilität zu wahren.

Zusammen mit der Geldpolitik, die die Zentralbanken wahrscheinlich zu lange zu locker beließen, da sie nach all den Jahren nicht mehr an Preisinstabilität gewöhnt waren, trugen diese Entwicklungen zu einem Inflationsschub bei, den die politischen Entscheidungsträger bisher nicht vollständig unter Kontrolle bringen konnten.

Paradigmenwechsel in der Wirtschaft

Dadurch entsteht ein ganz anderes Klima für Anleger. Experten hatten zwar stets darauf hingewiesen, dass das Inflationspotenzial berücksichtigt werden soll, etwa durch Anlagen in Aktien statt Bargeld oder in inflationsunabhängigen alternativen Anlageklassen. Doch dies war lange Zeit eher Theorie als Praxis, da die Anleger seit rund 30 Jahren keine nennenswerte Inflation erlebt hatten.

Der Inflationsschub hatte außerdem einen starken Anstieg der Zinssätze zur Folge. In den USA stieg der Leitzins der Fed zwischen März 2022 und Juli 2023 von nahezu null auf 5,25% bis 5,5% – ein seit Januar 2001 nicht mehr dagewesenes Niveau. Dadurch stiegen die Kreditkosten für Regierungen, Unternehmen und Haushalte gleichermaßen.

Dieser Umbruch hat die Art und Weise, wie Vermögenswerte bewertet werden, verändert. Eine Reihe von Anlagebereichen, denen die niedrigen Zinsen zugute kamen, wie Private Equity, Gewerbeimmobilien, Infrastruktur und wachstumsstarke Unternehmen, haben an Attraktivität eingebüßt. Dies trifft insbesondere auf Immobilien zu, denen auch die Beibehaltung der Telearbeit nach der Pandemie zu schaffen macht. Der Anstieg der Zinsen auf 4–5% führte zu höheren Anforderungen an die Mindestrendite aller Investments, auch am Aktienmarkt.

Anleger waren auch mit geopolitischen Turbulenzen konfrontiert, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend ausgeblieben waren. Der Druck durch die Risse in den Beziehungen zwischen den USA und China, den Krieg in der Ukraine und die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen, einschließlich des Einfrierens russischer Vermögenswerte in Höhe von über 300 Mrd. US-Dollar in Europa und Nordamerika, hat an den Finanzmärkten Spuren hinterlassen.

Dies zeigt der Rückgang des chinesischen Aktienmarktes, der inzwischen das dritte Jahr in Folge sinkt, sowie die Stärke von Anlagen, die als sicherer Hafen gelten, wie dem US-Dollar und zuletzt auch Gold, das Anfang 2024 neue Höchstwerte erreichte. Diese Entwicklung war auch an den Rohstoffmärkten zu beobachten: Hier steigt weltweit die Nachfrage nach seltenen Metallen und anderen Rohstoffen, und zwar insbesondere für solche, die für die Energiewende benötigt werden.

Die von den Anlegern in den vergangenen zwei Jahrzehnten verfolgten Strategien könnten in Zukunft nicht mehr so erfolgreich sein.

Kreditkosten und ihre Bedeutung

Aufgrund dessen könnten die von den Anlegern in den vergangenen zwei Jahrzehnten verfolgten Strategien in Zukunft womöglich nicht mehr so erfolgreich sein. Beispielsweise waren Investitionen am Aktienmarkt im vergangenen Jahrzehnt ziemlich einfach, da niedrige Zinsen und eine geringe Inflation optimale Bedingungen schufen.

Allerdings sollte man dabei bedenken, dass es eine kleine Gruppe großer US-Technologiekonzerne war, die mit ihrer hohen Gewichtung in Referenzindizes (einschließlich des MSCI World und S&P 500) wesentlich zur starken Gesamtperformance von Aktien beigetragen und den Anlegern glänzende Renditen beschert haben: die „Glorreichen Sieben“ Microsoft, Apple, Nvidia, Alphabet (Google), Amazon, Meta (Facebook) und Tesla.

Die zuvor niedrigen Kreditkosten ermöglichten es selbst schwächeren Unternehmen, zu gedeihen oder ihre Geschäftstätigkeit zumindest aufrechtzuerhalten. Inzwischen ist das Klima für die Unternehmen rauer geworden, und diejenigen, die nicht über eine stärkere Preismacht, ein kluges Management und einen soliden Marktanteil verfügen, könnten in Schwierigkeiten geraten.

In einem weniger günstigen Wirtschaftsumfeld werden die Starken wahrscheinlich an Stärke gewinnen, während es für schwächere Unternehmen mit hoher Verschuldung, einem fragilen Geschäftsmodell oder nicht wettbewerbsfähigen Produkten schwierig werden dürfte. Analysten verweisen auf die Qualitätsmerkmale von Unternehmen wie den sogenannten „GRANOLAS“ auf dem europäischen Markt, die Goldman Sachs als „international exponierte Qualitätswachstumsunternehmen“ bezeichnet. Es handelt sich um eine Mischung aus Pharma-, Luxusgüter-, Halbleitertechnologie-, Software- und Agrarlebensmittelunternehmen, die weiterhin Dividenden zahlen und ihre Widerstandsfähigkeit unter vielfältigen Marktbedingungen unter Beweis stellen konnten.

Bei Anleihen ist zu bedenken, dass deren Erträge im Laufe der Zeit nicht steigen, während sich Aktiendividenden in der Regel parallel zur Inflation erhöhen.

Zum ersten Mal seit einer Generation müssen sich die Anleger fragen, ob sie mit ihren Portfolios Renditen oberhalb der Inflationsrate erzielen können. Obwohl die Zinsen stark angezogen haben, halten sie oft nicht mit den steigenden Preisen Schritt. Und wer auf Anleihen setzt, sollte bedenken, dass deren Erträge im Laufe der Zeit nicht steigen, während sich Aktiendividenden in der Regel parallel zur Inflation erhöhen.

Die Preise von Vermögenswerten können auch von anhaltenden geopolitischen Spannungen und Konflikten beeinflusst werden. Diese wirken sich auf die Handelsbeziehungen aus, führen zu Lieferkettenunterbrechungen und verschärfen den Wettbewerb um wichtige Rohstoffe. Auch wenn sich die Volatilität der Ölmärkte durch den Konflikt im Nahen Osten erhöht, profitieren nachhaltige Produkte und Energiequellen hiervon nicht unbedingt direkt, wie sich an den rückläufigen Verkaufszahlen von Elektroautos in Europa und der schwierigen Wirtschaftslage im Bereich Offshore-Windkraft zeigt.

Es gibt nicht das eine „perfekte” Portfolio, das all diese Probleme automatisch lösen kann. Allerdings wird eine solide Finanzstrategie in Form einer sorgfältige Aktienauswahl, flexiblen Vermögensallokation, Diversifizierung über verschiedene Anlageklassen und Regionen hinweg in Verbindung mit einem guten Risikomanagement wertvoller denn je sein. An die Stelle der Großen Mäßigung scheint ein schwierigeres und komplexeres Wirtschaftsumfeld zu treten, in dem sich die Anleger nicht länger auf frühere Strategien und Gewohnheiten stützen können.