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Dezember 20, 2024

Nachhaltigkeit: Nichtstun ist keine Option

  Olivier Goemans myINVEST Dezember 15, 2020 1605

Der erste Schritt auf dem Weg zur Nachhaltigkeit sollte sein, die Kräfte zu erkennen, die maßgeblichen Einfluss auf die Prioritäten haben. Wesentlichkeit ist selbstverständlich ein wichtiger Punkt, vor allem wenn der Schutz anderer Teil der Aufgabe ist. Sobald die Probleme identifiziert sind, kann formuliert werden, wo der Fokus liegen sollte und wie viel Energie eingesetzt werden muss, um Lösungen zu finden.

Das sorgt zweifellos nicht selten für Kontroversen und wird oft auch mit viel Polemik diskutiert. Mancher hält paternalistische, moralische Überlegungen für unangebracht. Andere klagen über leere Versprechungen und die schleppende Umsetzung von Initiativen.

Die Welt von heute ist von einer immer schnelleren technologischen Innovation gekennzeichnet, doch aus meiner Sicht sind emotionale Intelligenz und Empathie zwei entscheidende Aspekte. Barbarische Verhaltensweisen, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als normal angesehen wurden, sind heute nicht mehr gesellschaftsfähig. Morgan Housel sagte einmal: „Während im Elend das Mitgefühl der Menschen gegenüber anderen begrenzt war, bedeuteten der Fortschritt, eine bessere Gesundheit und bessere Lebensbedingungen, dass man sich weniger um sein unmittelbares Umfeld sorgen musste, was den Weg frei machte, um Empathie für das Befinden anderer zu zeigen“1.

Die Pandemie ist erst dann unter Kontrolle, wenn sie überall eingedämmt ist.

Derzeit sollen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung helfen, die „Pandemiekurve abzuflachen“, also die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Manchmal frage ich mich zwar, wie wirksam das Tragen einer Maske mich selbst schützt. Doch dann komme ich immer wieder zu dem Schluss, dass die Frage irrelevant ist. Denn es geht darum, die Menschen in meinem Umfeld zu schützen, nicht mich selbst. Ganz egal, wie „risikofreudig“ ich bin, ganz egal, wie ich mein eigenes Leben lebe – ich kann nicht mit dem Leben anderer spielen. Die Pandemie ist erst dann unter Kontrolle, wenn sie überall eingedämmt ist. Zusammenarbeit, Solidarität und Hilfe sind in unser aller persönlichem Interesse: nichts anderes als konkrete Empathie in Aktion.

Auf der politischen Bühne zeigen sich allzu häufig Beispiele für Agnotologie2. Dies bedeutet nicht Kurzsichtigkeit, sondern Blindheit. Der Glaube an die Wissenschaft und das Vertrauen in Experten sollten an vorderster Stelle stehen. Sicher, das ist im echten Leben, wenn jede Entscheidung sorgfältig abgewogen werden muss, leichter gesagt als getan. Ich will nicht nach Schuldigen suchen, nicht urteilen und niemanden bevormunden. Politische Staatskunst dreht sich für mich um eine Vision, dass die Welt von heute sich etwas näher in Richtung Empathie und Verständnis für andere bewegt hat.

Kontroversen anzuheizen ist ganz einfach, wenn man dafür Falschinformationen und Irrtümer verbreitet. Dies ist auch eine „billige“ Methode, um in sozialen Medien viral zu gehen und Reaktionen zu provozieren. Lückenhaftigkeit und Irrtümer sind Teil der langen Reise zur Anpassung und Folgenminimierung, doch bis dahin bringen uns Engagement und ein solider „Fahrplan“ den gewünschten Veränderungen näher.

Das Argument, dass „die gute alte Zeit“ unsere Bestimmung sein sollte, ist ein Irrglaube. Aus meiner Sicht wirkt Dornröschen wie eine Mumie und für eine Vision der Welt, die uns in die Steinzeit zurückbefördert, kann ich mich nicht erwärmen.

Politiker, die bei der Umsetzung vom richtigen Weg abkommen, sollten sich die provokative Skulptur „Politiker, die den Klimawandel diskutieren“ des spanischen Street-Art-Künstlers Isacc Cordal ansehen. Diese Skulptur erinnert deutlich an die Schwierigkeiten eines Kollektivs, zu handeln.

© Isaac Cordal.

Überall herrscht Skepsis. In politischen Debatten, in der Finanzindustrie, unter Freunden und Kollegen. Für mich ist Perfektion der Feind des Fortschritts. Ich will nicht, dass irgendjemand meine persönlichen Ansichten und Überzeugungen einfach so übernimmt. Ich kann aber nur versuchen, als Wegbereiter des Wandels zu agieren, solange ich mich demütig und transparent auf unsere Reise zur Resilienz einlasse.

Das verfügbare Zeitfenster ist klein und die Uhr tickt. Die Pandemie hat aber auch bewiesen, dass umwälzende Veränderungen möglich sind, wenn sie sein müssen. Die Entscheidungen und Maßnahmen, die wir heute treffen, werden im Guten wie im Schlechten tiefgreifende Auswirkungen auf alle Spezies haben, auch unsere. Bei vielen unserer Aktivitäten ist die Zeit reif für eine Abkehr vom „Business as usual“. Wir müssen handeln, um für gesunde Ökosysteme und gesunde Menschen zu sorgen. Ich weiß, ich bin gerade sehr am moralisieren. Doch das mache ich mit voller Absicht.

COVID-19 hat auch die Ungleichheiten zwischen Ländern und innerhalb von Ländern aufgedeckt und verstärkt. Stand heute tut sich Neuseeland als das erfolgreichste Land bei der Bewältigung der COVID-19-Krise hervor. Die Gründe für diesen Erfolg sind zahlreich: ein glaubwürdiges, konsequentes Handeln des Staates bereits kurz nach dem Ausbruch der Pandemie, wirksame Kommunikation seitens der Behörden, ein hohes Maß an Vertrauen in und Glauben an die Wissenschaft bei der Entscheidungsfindung, effiziente Massentestungen und Kontaktverfolgung, gelungene Sicherung der Unterstützung durch die Öffentlichkeit, großes Vertrauen in Staat und Regierung und Solidarität innerhalb der Bevölkerung … Natürlich sind auch geografische Besonderheiten (relativ isolierte Insellage, geringe Bevölkerungsdichte etc.) von Vorteil, dennoch haben Neuseeland, seine Bevölkerung und seine Regierung so etwas wie eine Vorbildfunktion für eine Welt nach dem Ende der Pandemie. „Eine grünere, wissensbasierte Gesellschaft, die von noch mehr Gleichheit, Vertrauen und Solidarität gekennzeichnet ist.“3

Nichts, was wir tun, wird perfekt sein. Doch untätig zu bleiben wäre ein Riesenfehler.

Der Haken bei alldem ist, dass wir nicht so lange warten können, bis wir die perfekte Vorgehensweise kennen. Fortschritt setzt voraus, dass wir bereit sind zu akzeptieren, dass wir nicht immer perfekt handeln. „Nichts, was wir tun, wird perfekt sein. Doch untätig zu bleiben wäre ein Riesenfehler.”4 Dies gilt für jeden von uns – als Erdenbürger. Dies gilt umso mehr für mich – als Banker und Anleger. Mit dem Tempo, mit dem sich Dinge verändern, werde ich wohl nie zufrieden sein, doch das hält mich nicht davon ab, mich für diese Reise einzusetzen und entsprechend zu agieren. Hier geht es nicht darum, sich gut zu fühlen, es geht darum, etwas zu unternehmen und Gutes zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass man nicht einfach von jetzt auf gleich die Finanzierung fossiler Brennstoffe beenden kann, ohne den Ruin der Wirtschaft zu riskieren. Doch Anreize für den Übergang zu sauberen, erneuerbaren Energieträgern revolutionieren bereits jetzt das Denken im Finanzbereich. Banken und Banker entdecken ebenfalls ihr soziales Gewissen und finden Wege, einen Nutzen für die Gesellschaft zu erzielen.


1 Morgan Housel – „You can see where this is going“ (Man sieht, wo das hinführt)
2 Agnotologie bezeichnet den Umstand, dass Unwissenheit und Zweifel möglicherweise gezielt von spezifischen Interessengruppen gefördert werden, um die Wahrheit über kritische Themen zu verschleiern. Siehe https://my-life.lu/de/die-mutter-aller-themen-mit-disruptionspotenzial-nachhaltigkeit-30501/
3 Joseph Stiglitz – Conquering the great divide
4 Sue Senger auf Medium – Why We Need More Role Models To Spark Sustainable Behaviors (Warum wir mehr Vorbilder brauchen, die zu nachhaltigem Verhalten anhalten)