Spitzenreiter in puncto Klimaneutralität auf dem Prüfstand
Inzwischen ist offenbar mehr Menschen denn je bewusst, dass wir etwas gegen die drohende Klimakrise unternehmen müssen. Im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015, mit dem die Bekämpfung des Klimawandels international gestärkt werden sollte, vereinbarten die Länder, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf deutlich weniger als 2°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Außerdem wollten sie sich darum bemühen, den Anstieg in diesem Jahrhundert auf 1,5°C zu beschränken. Doch auf Worte müssen auch Taten folgen!
Nationale Gesetze zwingen zum Handeln, der Finanzsektor fordert Maßnahmen und auch in der Privatwirtschaft sind verstärkte Bemühungen sichtbar. Wenn die Konkurrenz bereits handelt, haben Unternehmen keine Wahl, als sich ebenfalls mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen – um die Gesetze einzuhalten, Investitionen anzuziehen, die Erwartungen der Kunden zu erfüllen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Unternehmen haben ein direktes Interesse daran, sich mit dem Klimawandel zu befassen. Erstens, um zu verstehen, welchen Klimarisiken sie ausgesetzt sind, und zweitens, um ihre Chancen in einer emissionsarmen Wirtschaft auszuloten.
Der Weg zur Klimaneutralität
Um das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten, müssen die Unterzeichner die Nettobilanz ihrer Treibhausgasemissionen, die sich aus der Aufrechnung von Treibhausgasquellen und -speichern ergibt, bis zur Mitte des Jahrhunderts auf null reduzieren. Hierzu muss jeder einzelne Wirtschaftsakteur weltweit einen Kurs einschlagen, der auf dieses Gesamtziel ausgerichtet ist. In den letzten Jahren hat sich der Begriff „netto null“ oder „klimaneutral“ von einem eher obskuren wissenschaftlichen Konzept zur zentralen Handlungsdevise gewandelt.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist dieser Begriff eindeutig definiert: Der Klimawandel lässt sich nur dann aufhalten, wenn der Atmosphäre jährlich ebenso viel CO2 entzogen wird, wie durch Emissionen entsteht.
In der Praxis ist die Bedeutung von „netto null“ oder „klimaneutral“ allerdings weitgehend unklar.
In der Praxis ist die Bedeutung von „netto null“ oder „klimaneutral“ allerdings weitgehend unklar. Die tatsächliche Umsetzung von Maßnahmen in Ländern, Regionen, Städten und Unternehmen richtet sich meist nach deren konkreten Herangehensweisen. Nicht alle Klimaneutralitätsziele sind gleichwertig. Die Anleger müssen natürlich wissen, ob diesbezüglich eine Verpflichtung eingegangen wird, aber auch, wie zuverlässig und glaubwürdig diese Verpflichtung ist. Darüber hinaus kann die Festlegung langfristiger, wissenschaftlich ausgerichteter Ziele zwar eine wichtige Triebfeder für Maßnahmen sein, doch ohne unverzügliches Handeln werden langfristige Ziele immer unerreichbar bleiben.
Derzeit sind die meisten Verpflichtungen zur Klimaneutralität freiwillige Zusagen. Entscheidend ist daher die Beurteilung, ob es sich bei so einer Zusage lediglich um eine öffentliche Erklärung in einer Pressemeldung oder auf der Website des Unternehmens handelt, oder ob diese in die Unternehmensstrategie eingebunden ist und entsprechende KPIs vorliegen. Außerdem gilt es zu verstehen, welchen Geltungsbereich die Zusage hat (direkte/indirekte Emissionen, THG-Scope 1, 2, 3). Tatsächlich gilt es zunächst einmal nachzuvollziehen, wie die Nettoemissionen auf null reduziert werden sollen, d. h. wie die Zusage umgesetzt werden soll, um einzuschätzen, wie bedeutsam und konkret sie ist.
Grundsätzlich sollte eine Selbstverpflichtung zur Klimaneutralität von der Unternehmensführung kommen. Sie sollte darauf abzielen, die Netto-Treibhausgasemissionen möglichst bald und spätestens bis 2050 auf null zu senken. Außerdem sollten innerhalb dieses Jahrzehnts angestrebte Zwischenziele festgelegt werden, es sollte jährliche Fortschrittsberichte geben und die Ziele müssen sämtliche Treibhausgase einschließlich Scope-3-Emissionen umfassen1.
Der Rückgriff auf CO2-Zertifikate, d. h. die Praxis, für Emissionssenkungen oder die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu zahlen, gefährdet wirksame Klimaschutzmaßnahmen.
Ausgleichsmethoden
Ausgleichsmethoden sind ebenfalls umstritten, wenn sie nicht mit der Verpflichtung selbst im Zusammenhang stehen. Zum Teil lassen sich Emissionen wahrscheinlich nicht vermeiden, oder es wäre zu teuer, diese Emissionen zu senken. Doch der Rückgriff auf CO2-Zertifikate, d. h. die Praxis, für Emissionssenkungen oder die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu zahlen, gefährdet wirksame Klimaschutzmaßnahmen.
Ausgleichsmaßnahmen tragen zur Lösung bei, haben aber naturgemäß eine begrenzte Tragweite. Wenn sich die Menschheit nicht selbst ausrotten will, sollten sie nur als letzter Ausweg herangezogen werden. Aktuell gibt es drei Arten von Ausgleichsmethoden: die Aufforstung und Wiederaufforstung; die Gewinnung von Bioenergie aus Biomasse sowie die Abscheidung und Speicherung des Kohlendioxids (Bioenergy with Carbon Capture and Storage, BECCS) und die direkte Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid aus der Luft (Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS).
Sowohl Baumpflanzungen als auch BECCS stehen in direkter Konkurrenz zu Anbauflächen, und für DACCS wird sehr viel Energie benötigt2. Naturbezogene Ausgleichsmaßnahmen werden zwar immer beliebter, sind aber nicht unbegrenzt umsetzbar. Ein aktueller Bericht von Greenpeace ergab, dass zwei Unternehmen, nämlich Eni und die International Airlines Group, allein bis zu 12 % der insgesamt verfügbaren Maßnahmen zum Ausgleich von CO2-Emissionen durch neue Wälder ausschöpfen könnten. Da die vom Menschen verursachten Emissionen die Menge der weltweit verfügbaren „Ausgleichsmaßnahmen“ bei Weitem übersteigen, ist dieses Konzept nicht universell anwendbar und kann daher nicht als praktikable, in großem Umfang skalierbare Lösung betrachtet werden.
„Best Practice“-Verfahren für Ausgleichsmaßnahmen befinden sich noch in der Entwicklungsphase. Derzeit ist eine genaue Schätzung der Kohlendioxidabscheidung im Rahmen naturbezogener Ausgleichsprogramme extrem schwierig. Es handelt sich um einen wachsenden, unregulierten Markt, der zunehmend kritisch betrachtet wird. Da es an strengen Überprüfungsverfahren mangelt, dürften viele Unternehmen wesentlich weniger Kohlendioxid abscheiden als sie behaupten, und in Anbetracht der preisgünstigen Ausgleichsmaßnahmen sind ihre Behauptungen wohl zu schön, um wahr zu sein3.
Wir müssen sicherstellen, dass sich Unternehmen nicht rein rechnerisch als klimaneutral darstellen können, während sie tatsächlich weiter zur Erderwärmung beitragen.
Es ist wichtig, Unternehmen zum Handeln zu bewegen, anstatt abzuwarten. Wir müssen allerdings sicherstellen, dass sie sich nicht rein rechnerisch als klimaneutral darstellen können, während sie tatsächlich weiter zur Erderwärmung beitragen. Unternehmen möglichst schmerzfreie Auswege zu bieten und die Kreativität bei der Problemlösung abzuwürgen, ist mit Sicherheit keine erfolgversprechende Strategie. Jeder versteht, dass ein Unternehmen niemals klimaneutral sein, sondern bestenfalls zur Klimaneutralität beitragen kann. Das sollte keine Aufgabe auf individueller Ebene sein; sie erfordert gemeinschaftliche Bemühungen.
Die Initiative Net Zero Tracker
Eines ist klar: Ohne eine schnelle Verringerung der Emissionen lassen sich die Pariser Klimaziele nicht umsetzen. Letztlich sollte bei Selbstverpflichtungen zur Klimaneutralität daher auch unmissverständlich angegeben werden, in welchem Umfang dies durch Ausgleichsmaßnahmen erreicht werden soll und mit welcher Ausgleichsmethode. Natürlich unter der Voraussetzung, dass die Bilanzierung im Zusammenhang mit dem Klimawandel und den CO2-Emissionen einer Kontrolle unterliegen muss. In dieser Hinsicht ist die Gründung der Initiative Net Zero Tracker, die seit Oktober 2021 öffentlich verfügbar ist, ein wichtiger Meilenstein. Der Tracker soll nicht nur die Anzahl, sondern auch die Qualität der Klimaneutralitätsziele erfassen. Er verwendet Begriffe, die Selbstverpflichtungen, Versprechen und Zusagen eindeutig machen, und stellt auf diese Weise sicher, dass die Verpflichtung, die Nettoemissionen auf null zu senken, auf einer realen, wissenschaftlich fundierten Grundlage und soliden Rahmenbedingungen beruht.
Angesichts der explosionsartigen Zunahme von Selbstverpflichtungen zur Klimaneutralität sollte jeder Anleger www.zerotracker.net nutzen, denn dort wird die Glaubwürdigkeit von Zielsetzungen zur Senkung der Nettoemissionen auf null unabhängig überprüft. Das Projekt wird von vier verschiedenen Organisationen mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Klimastiftung durchgeführt: von der Universität Oxford, der Energy & Climate Intelligence Unit (einer gemeinnützigen britischen Organisation), dem New Climate Institute und dem Data Driven Envirolab an der Universität North Carolina. Ziel ist ein allgemein zugängliches Werkzeug, um zu prüfen, wer bei der Umsetzung der Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens auf einem guten Weg ist.
1 Treibhausgasemissionen werden im international meistgenutzten Bilanzierungsinstrument, dem Treibhausgasprotokoll (THG-Protokoll) in drei Gruppen oder „Scopes“ unterteilt. Scope 1 umfasst Direktemissionen aus eigenen oder vom Unternehmen kontrollierten Quellen. Scope 2 umfasst indirekte Emissionen aus der Erzeugung von bezogener Energie in Form von Strom, Dampf, Wärme und Kälte, die vom betreffenden Unternehmen verbraucht werden. Scope 3 umfasst alle anderen indirekten Emissionen, die in der Wertschöpfungskette eines Unternehmens auftreten.
2 Die Logistikkette, die von der CO2-Abscheidung bis zur geologischen Speicherung reicht und auch den Druckgastransport umfasst, erfordert, verglichen mit einer Kette ohne CO2-Abscheidung und -Speicherung, die Zufuhr von noch mehr Energie. Schätzungen zufolge liefert ein Kraftwerk mit Abscheidungssystem 15 bis 30 % weniger Strom als eines, dass sein CO2 in die Atmosphäre abgibt. Der Energieverlust variiert und ist von der Art des Kraftwerks und des Abscheidungssystems abhängig.
3 Bloomberg zufolge zahlte Total 2020 bei der Lieferung seiner „ersten klimaneutralen Ladung Flüssigerdgas“ weniger als 3 US-Dollar pro Tonne für die geschätzte Kohlendioxidabscheidung im Rahmen der Ausgleichsmaßnahmen. Das entspricht ungefähr 1/20 des Preises, den Unternehmen auf dem europäischen Emissionshandelsmarkt zahlen.