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Dezember 20, 2024

Wasserstoff hat viele Farben

  Olivier Goemans myINVEST Juli 23, 2021 1838

Wie lässt sich Klimaneutralität erreichen? Die einen setzen auf Verantwortung und fordern Konsumverzicht, während die anderen darauf vertrauen, dass technologische Innovationen alle Probleme lösen werden. Welche Entscheidung ist die beste und worauf sollten wir den Fokus legen? Könnte Wasserstoff die Lösung sein?

In einem kürzlich erschienenen Artikel gingen wir auf die Dringlichkeit des Klimawandels und die Fortschritte bei der Elektromobilität ein. Einige Wochen nach Veröffentlichung dieses Artikels widmete sich der Kanal „Economics Explained“ in einem Online-Video dem Unfall des Containerschiffs der Reederei Evergreen. Dieser Unfall, der den Seeverkehr im Suezkanal mehrere Tage lang blockiert hatte, ist ein perfektes Beispiel für die Unterbrechung vieler Lieferketten, die Ökonomen seit einigen Monaten Sorgen bereitet. In dem Video wurde angeregt, diese Krise als Chance zu nutzen und Güter nicht mehr auf dem Seeweg oder auf der Straße, sondern mittels mit Wasserstoff gefüllten Luftschiffen zu befördern. Ich dachte sofort an die Hindenburg1 und fürchtete schon die nächste Katastrophe, bevor mir klar wurde: Wir hatten den 1. April und es handelte sich nur um einen Scherz. Ich muss zugeben, dass ich darauf reingefallen bin.

Diese Anekdote zeigt das Dilemma bei der Debatte über die Erderwärmung. Zwar herrscht Einigkeit darüber, dass die Wirtschaft schnellstmöglich klimaneutral werden muss. Nur wissen wir nicht, wie dies erreicht werden kann. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die radikalen Konsumverzicht fordern. Hierzu gehören Aktivistengruppen und immer mehr Wissenschaftler. Ihnen gegenüber stehen – zumeist eher neoliberale – Fortschrittsgläubige, die davon ausgehen, dass technologische Innovationen der Schlüssel sind, um diese Herausforderungen zu meistern.

Die Wasserstoffwirtschaft

Hier setzt das Konzept der Wasserstoffwirtschaft an. Dieser Begriff wurde vor mehr als 50 Jahren von dem Elektrochemiker John Bockris geprägt, dessen Vision ein Wirtschaftsmodell war, in dem Städte mit erneuerbaren Energien versorgt werden und Wasserstoff eingesetzt wird, um Schwankungen im Stromnetz auszugleichen. Inspiriert wurde er von dem Roman „Die geheimnisvolle Insel“ von Jules Vernes, der 1875 schrieb: „Ich glaube, dass Wasser eines Tages als Brennstoff verwendet werden wird, dass Wasserstoff und Sauerstoff, aus welchen es besteht, entweder zusammen oder getrennt verwendet, eine unerschöpfliche Quelle für Wärme und Licht sein werden, und zwar von einer weit größeren Stärke als Kohle es vermag.“

Einige Investmentbanken empfehlen ihren Kunden ausdrücklich, in Wasserstoff als revolutionäre alternative Energiequelle zu investieren.

Daher ist es nicht überraschend, dass einige Investmentbanken ihren Kunden ausdrücklich empfehlen, in Wasserstoff als revolutionäre Energiequelle für Transport, Heizung, Schwerindustrie (Stahlwerke, Zementfabriken usw.) und chemische Industrie zu investieren, da sich so überschüssiger Strom aus erneuerbaren Energien (Wind, Sonne, Gezeiten usw.) speichern lässt. Kurz gesagt wird erwartet, dass Öl weitgehend durch Wasserstoff ersetzt wird.

Das hört sich vielversprechend an, ist aber zum Teil utopisch. Obwohl Wasserstoff das am häufigsten vorkommende Element im Universum und vermutlich unerschöpflich ist, kommt er auf der Erde in der Natur nicht in reiner Form vor. Auf unserem Planeten tritt Wasserstoff immer in Verbindung mit anderen chemischen Elementen auf, in Molekülen wie Wasser (H20) und Methan (CH4). Zur Gewinnung von Wasserstoff muss deshalb Energie eingesetzt werden (durch Elektrolyse oder Methanreformierung2 ).

Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Gesetze der Thermodynamik lassen sich nicht aushebeln. Um Wasserstoff zu erzeugen, wird genau die Menge an Energie benötigt, die der Wasserstoff bei seiner Verbrennung liefert, d. h. wenn er sich erneut mit Sauerstoff verbindet, sodass Wasser entsteht!

Ebenso wichtig ist, dass Wasserstoff nur dann als eine erneuerbare Energie anzusehen ist, wenn bei seiner Erzeugung ausschließlich erneuerbare Quellen genutzt werden. So spricht man von grünem Wasserstoff, wenn er durch Elektrolyse mit grünem Strom erzeugt wird, von blauem Wasserstoff, wenn er durch Dampfreformierung aus Methan erzeugt wird – unter der Voraussetzung, dass die Kohlenstoffemissionen aufgefangen werden (allerdings steckt die Technologie noch in den Kinderschuhen), und schließlich von grauem (oder schwarzem) Wasserstoff (Kohle, Öl und Gas, wobei das CO2 direkt in die Atmosphäre gelangt).

Dabei ist zu beachten, dass die Produktion von grünem Wasserstoff derzeit 2,5- bis 5-mal teurer ist als von grauem Wasserstoff.

Teil der Lösung oder des Problems?

Angesichts dieser Farbpalette ist es offensichtlich, dass Wasserstoff aufgrund seiner Herstellung in vielen Fällen eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist. Einzig der grüne Wasserstoff wäre eine sinnvolle Alternative zu fossilen Brennstoffen. Doch bevor man glaubt, dass damit der Heilige Gral gefunden wurde, ist zu beachten, dass die Produktion von grünem Wasserstoff derzeit 2,5- bis 5-mal teurer ist als von grauem Wasserstoff.

Zum Ausgleich der höheren Kosten bedarf es finanzieller Unterstützung sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite, sodass Skaleneffekte ausgelöst werden und der grüne Wasserstoff wettbewerbsfähig wird. Es ist nicht überraschend, dass die Schwerindustrie als erstem potenziellen Nutzer von grünem Wasserstoff mit Blick auf Volumen, Rentabilität und Umweltauswirkungen darauf drängt, ihn auch im Transportsektor zu nutzen, damit dieser einen Teil der Kosten übernimmt.

Man ist sich einig, dass die Elektrobatterie für PKW die bessere Alternative ist. Für den Durchschnittsbürger ist es offensichtlich einfacher, Strom aus Solarenergie zu nutzen, als zu Hause einen Elektrolyseur zu betreiben. Bleibt noch die Frage, ob Wasserstoff im Schwer- und Langstreckentransport eingesetzt werden wird. Bislang ist die Energieausbeute bei der Umwandlung von Strom in Wasserstoff, der dann wieder in Strom umgewandelt wird, sehr gering. Bezieht man den Transport und die Speicherung mit ein, sieht es noch schlechter aus. Denn Wasserstoff hat eine sehr geringe Dichte, sodass viel Energie aufgewendet werden muss, um ihn für den Transport zu komprimieren.

Um die hohen Kosten für die Herstellung von grünem Wasserstoff auszugleichen, müssen das ganze Jahr über große Mengen an Strom zu sehr niedrigen Preisen verfügbar sein. Es werden Prototypen getestet3, insbesondere in Gebieten mit einem Überangebot an Wind- und Solarenergie, die nur schwer ins Stromnetz zurückgespeist werden kann.

Niemand kann heute genau sagen, welche Rolle Wasserstoff bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft spielen wird, sodass der Hype um die Wasserstoffwirtschaft übertrieben erscheint.

Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass der technologische Fortschritt alle Probleme lösen wird, sondern müssen umgehend Maßnahmen ergreifen, um unsere Emissionen deutlich zu reduzieren.

Eines ist klar: Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass der technologische Fortschritt alle Probleme lösen wird, sondern müssen umgehend Maßnahmen ergreifen, um unsere Emissionen deutlich zu reduzieren. Auch wenn ein Investment in die Wasserstoffindustrie möglicherweise äußerst interessant ist, sollten Anleger bedenken, dass die wichtigsten Elemente beim Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft Energieeffizienz, erneuerbare Energien und direkte Elektrifizierung als Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel sind. Dies schließt auch Wasserstoff mit ein. Er ist Teil des Instrumentariums der Energiewende, aber sicher kein Allheilmittel.


1 Die Hindenburg war das größte kommerzielle Luftschiff der Welt, das auf einer regulären Strecke zwischen Europa und den USA eingesetzt wurde. Nach 14-monatigem Betrieb wurde der Zeppelin am 6. Mai 1937 bei der Landung in Lakehurst in New Jersey zerstört, als sich der Wasserstoff entzündete. Das Unglück fand weltweite Beachtung und bedeutete das Ende des transatlantischen Luftschiffverkehrs.

2 Die Methanreformierung ist eine chemische Reaktion, bei der Wasserstoff aus Methan im Erdgas oder Biomethan erzeugt wird.

3 Beispielsweise auf den Orkney-Inseln in Schottland oder auch in den Niederlanden beim Wasserstoffprojekt im Talgebiet (HEAVENN: H2 Energy Applications in Valley Environments for Northern Netherland)