Auf dem Weg zu einem klimaneutralen Lebensstil
Wenn wir heute Geschäftsmodelle beurteilen, geht es vor allem um Nachhaltigkeit und den Kampf gegen den Klimawandel. Dies führt zu einer paradoxen Situation. Nachhaltigkeit bedeutet, Wachstum mit Rücksicht auf Umweltschutz und soziale Integration zu erzielen. Und doch versuchen wir, etwas zu erhalten, das nicht nachhaltig ist: unseren Lebensstil, unsere Konsum- und Produktionsmuster.
First Principle Thinking
Als Dozent für Bankstrategie an der Universität Luxemburg versuche ich, Studenten den Denkansatz des First Principle Thinking im Zusammenhang mit der digitalen Transformation der Banken zu vermitteln. Mein bevorzugtes Beispiel zur Veranschaulichung dieses Ansatzes bezieht sich auf Carl Benz, den deutschen Ingenieur, der 1885 das erste praxistaugliche Automobil zum Patent anmeldete, das in Serie produziert wurde. Damals versuchten alle anderen, die Konstruktion von Kutschen zu optimieren und folgten dabei der traditionellen Logik des Denkens in Analogien. Benz hingegen verfolgte einen anderen Ansatz: First Principle Thinking. Er brach die Probleme auf die einzelnen Komponenten herunter und betrachtete die physikalischen Grundlagen der Konstruktion sowie die verfolgten Ziele. Indem er sich auf die grundlegenden Aspekte des Transports konzentrierte, gelang es ihm, die Möglichkeiten des Verbrennungsmotors zu nutzen und so etwas Neues zu schaffen. Von diesem Punkt an fand eine rasante Entwicklung statt: Schon bald wurden die Straßen New Yorks von Fords Modell T beherrscht, und die Apotheken1 begannen, Benzin zu verkaufen.
Ein berühmtes Zitat von Elon Musk lautet: „Wir denken im Alltag in der Regel in Analogien. Wir orientieren uns also daran, was in ähnlichen Fällen in der Vergangenheit getan wurde oder heute getan wird. Beim First Principle Thinking reduziert man die Dinge auf ihre grundlegenden Eigenschaften … und denkt vor dort aus weiter.“
Der Ausgangspunkt für bahnbrechende Technologien sind meist revolutionäre Ideen, die den Status quo in Frage stellen. Ebenso wie für Technologien gilt dies auch für Geschäftsmodelle.
Der Ausgangspunkt für bahnbrechende Technologien sind meist revolutionäre Ideen, die den Status quo in Frage stellen. Ebenso wie für Technologien gilt dies auch für Geschäftsmodelle. So besteht das Grundprinzip der Blue-Ocean-Strategie2 – einer Strategie zur Entwicklung neuer Märkte ohne relevanten Wettbewerb – etwa darin, auf die Nutzer und nicht auf die Wettbewerber zu schauen. Aus Sicht der Anbieter geht es darum, die Fallen kurzsichtigen Marketings zu vermeiden.
Von weniger Umweltverschmutzung zur Regeneration der Biodiversität
Mit Blick auf den Klimawandel sind sich alle einig, dass eine grünere Wirtschaft allein nicht ausreicht. Investitionen in erneuerbare Energien sind großartig. Doch wir müssen darüber hinaus aufhören, die Kohlenstoffwirtschaft zu subventionieren, und eine Vollkostenrechnung einführen, bei der auch externe Effekte berücksichtigt werden (wie z. B. bei der Bepreisung von Kohlenstoffemissionen). Der Schutz des Klimas ist untrennbar mit dem Schutz der Natur und der Vielfalt des Lebens, d. h. der Biodiversität verbunden.
Das Festhalten an konventionellen Praktiken führt dazu, dass wir die Kipppunkte des Planeten verpassen. Die Degeneration natürlicher Systeme wird sich dann nicht mehr stoppen lassen. Es ist höchste Zeit, Prozesse der Regeneration in Gang zu setzen. Wir müssen zu einem Leben innerhalb der planetaren Grenzen3 finden, die einen „sicheren Handlungsspielraum“ für die Menschheit festlegen. Die meisten Veränderungen erfordern ein Überdenken der bestehenden Prozesse und Überlegungen, wie sie zirkulär, ressourceneffizient und sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch tragfähig gestaltet werden können.
Anstatt der Umwelt lediglich weniger Schaden zuzufügen, müssen wir restaurative und regenerative Lösungen finden.
Wir brauchen mehr als nur schrittweise Veränderungen. Anstatt der Umwelt lediglich weniger Schaden zuzufügen, müssen wir restaurative und regenerative Lösungen finden. Es geht also darum, die Natur als Vorbild zu nutzen und ganz im Sinne der Bionik aus natürlichen Strukturen und Prozessen zu lernen. Die Natur bietet Lösungen für eine Vielzahl von Herausforderungen, mit denen wir heute in Bezug auf Nahrung, Trinkwasser, Kleidung, Arbeit und weitere Themen konfrontiert sind. Wir können diese Herausforderungen nur dann meistern, wenn wir uns auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen und die kognitiven Verzerrungen überwinden, die aus unserem analogen Denken resultieren. Andernfalls werden wir keine Lösungen finden, sondern in allem immer nur das sehen, was wir sehen wollen.
Wir befinden uns in einer Krise der Biodiversität und sind mit einem planetarischen Notfall konfrontiert. Es ist höchste Zeit, unsere Beziehung zur Natur zu überdenken. Ein nicht nachhaltiges Wirtschaftswachstum hat verheerende Folgen für die Ökosysteme, die durch den Klimawandel, das Artensterben und die Wasserverknappung bedroht sind.
Fehlallokationen von Kapital vermeiden
Schutz und Regeneration der Umwelt gewinnen sowohl im Bereich nachhaltiger Entwicklung als auch nachhaltiger Finanzen zunehmend an Bedeutung. Für den Schutz der Natur bedarf es der Veränderung von Einstellungen, Verhaltensweisen, Existenzgrundlagen und Lebensstilen.
Wenn das Ziel nicht nur darin besteht, Mittel aus schädlichen Aktivitäten abzuziehen, sondern auch proaktiv in eine neue Generation von Finanzprodukten mit positiver Wirkung für die Natur zu investieren, kann die Analyse und Integration von gemessenen Auswirkungen auf die Biodiversität dazu beitragen, Fehlallokationen von Kapital zu vermeiden.
In dieser Hinsicht wurden 2021 einige wichtige Meilensteine mit Blick auf die Biodiversität erreicht, wobei Regulierungsbehörden, Regierungen und Unternehmen die Bedeutung des Naturkapitals bekräftigten. Zu den bemerkenswerten Erfolgen gehört die Verabschiedung der Erklärung der Staats- und Regierungschefs zu Wäldern und Landnutzung während der UN-Klimakonferenz in Glasgow (COP26). Die Erklärung wurde von mehr als 120 Staaten unterzeichnet, die sich verpflichten, gemeinsam daran zu arbeiten, Waldverluste und Bodendegradation bis 2030 zu stoppen und umzukehren. Ebenfalls hervorzuheben ist die Erklärung von Kunming4, in der die Agenda für die Schaffung eines globalen Biodiversitätsrahmens festgelegt wird. Die unterzeichnenden Staaten sind dazu aufgerufen, die Finanzströme an den globalen Biodiversitätszielen auszurichten und die Investitionen in naturbasierte Lösungen zur Eindämmung des Klimawandels zu erhöhen.
Der globale Biodiversitätsrahmen beinhaltet Anforderungen an Unternehmen, „Abhängigkeiten und Auswirkungen auf die biologische Vielfalt zu bewerten und darüber zu berichten“, „ihre negativen Auswirkungen auf die biologische Vielfalt zu verringern“ und „mit der biologischen Vielfalt verbundene Risiken für Unternehmen zu reduzieren“. Nun wird es entscheidend darauf ankommen, ob aus dem ehrgeizig angelegten Rahmen nicht nur vage Schlussfolgerungen, sondern tatsächlich klare und konsistente Leitlinien für die Berechnung der Auswirkungen auf die biologische Vielfalt hervorgehen werden. In dieser Hinsicht sollten wir optimistisch sein, dass Initiativen wie die Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD) an den Erfolg der TCFD, der Taskforce on Climate Financial Disclosures, anknüpfen können, indem sie aussagekräftige Offenlegungen zu biodiversitätsbezogenen Risiken durchsetzen und einen Wandel der Normen in Bezug auf naturbezogene Risiken und Chancen für die Finanzbranche ermöglichen.
Als Anleger müssen wir heute lernen, wie wir in umweltfreundliche Lösungen investieren können
Ebenso wie Unternehmen lernen, die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf die Biodiversität zu messen und Bericht darüber zu erstatten, lernen auch Vermögensverwalter und Banken, wie sie diese Auswirkungen in ihre Beurteilung der unterschiedlichen Geschäftsmodelle von Unternehmen, deren Bewertung und Kreditwürdigkeit einbeziehen sowie ihre klima- und umweltbezogenen Finanzrisiken vollständig offenlegen können. Als Weltbürger ändern wir unseren Lebensstil, unser Verhalten und unsere Konsummuster. Als Anleger müssen wir heute lernen, wie wir in umweltfreundliche Lösungen investieren können. Es ist höchste Zeit für einen Kurswechsel. Wenn wir den nachfolgenden Generationen keinen zerstörten Planeten hinterlassen wollen, dürfen nicht länger in zerstörerische Industrien investieren. Investitionen in die Zukunft müssen grün, nachhaltig und regenerativ sein.
1 Vor dem Aufkommen der modernen Tankstellen kauften die Autofahrer ihr Benzin in den örtlichen Apotheken und Drogerien, wo sie auch das Petroleum für ihre Lampen bekamen.
2 Das 2004 veröffentlichte Buch „Blue Ocean Strategy“ stammt von W. Chan Kim und Renée Mauborgne, Professoren der Wirtschaftshochschule INSEAD. Laut den Autoren entsteht in einem überfüllten Markt dauerhafter Erfolg durch die Schaffung von „blauen Ozeanen“, also neuen unerschlossenen Märkten mit hohem Wachstumspotenzial. Dies ist mittlerweile in der Geschäftswelt angekommen: Weltweit meiden Unternehmen die von hartem Wettbewerb gekennzeichneten roten Ozeane und schaffen sich stattdessen ihre eigenen blauen Ozeane.
3 Das Konzept der planetaren Grenzen wurde am Stockholm Resilience Centre entwickelt. Es umfasst neun wissenschaftlich begründete ökologische Grenzen, deren Einhaltung noch vielen zukünftigen Generationen ein sicheres Leben auf der Erde ermöglichen würde.
4 Die Erklärung von Kunming wurde im Oktober 2021 im ersten Teil der virtuell abgehaltenen 15. Biodiversitätskonferenz der Vereinten Nationen von mehr als 90 Staaten verabschiedet. Die Vertragsstaaten bekunden ihren Willen, den Schutz der biologischen Vielfalt in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, und erkennen die Bedeutung des Umweltschutzes für den Schutz der menschlichen Gesundheit an.