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ESG-Integration ist gut, reicht aber nicht mehr aus

ESG-Anlagen erfordern Research und das Einpreisen von umweltbezogenen, sozialen und die Unternehmensführung betreffenden Faktoren bei der Bewertung potenzieller Anlagen – zusätzlich zu den üblichen finanziellen Erwägungen. Bei ESG-Anlagen kommt auch eine Stakeholder-zentrierte Analyse zum Einsatz, bei der ermittelt wird, wie Unternehmen hinsichtlich langfristiger Erfolge oder Misserfolge mit allen Interessensgruppen – nicht nur mit ihren Aktionären – umgehen.

Die Kombination von ESG-Einschätzungen mit der traditionelleren Wertpapierfinanzanalyse wird als ESG-Integration bezeichnet. ESG-Erwägungen gehen Hand in Hand mit langfristigen Betrachtungen, der Quintessenz solider Vermögensverwaltung und Beratung.

ESG-Integration ist ein Muss

Es ist kein Wunder, dass die ESG-Integration immer mehr an Zulauf gewinnt. Untersuchungen ergaben, dass ESG-Anlagen das Potenzial besitzen, das Portfoliorisiko zu senken, konkurrenzfähige Anlagerenditen zu generieren und Anlegern ein gutes Gefühl hinsichtlich ihrer investierten Vermögenswerte zu verschaffen. Darüber hinaus führen die Fokussierung auf Nachhaltigkeitspolitik innerhalb der EU und die damit verbundenen Reglementierungsinitiativen dazu, dass nichtfinanzielle und finanzielle Erwägungen nunmehr gleichauf sind – eine bedeutende Wende im Bereich Anlageansätze.

Doch wie jede Anlagestrategie bergen auch ESG-Anlagen ihre Risiken. Neben den klassischen Fallen für die relative Wertentwicklung, die sich aus kurzfristigen Dynamiken am Kapitalmarkt ergeben, sind fehlende Standards und offene Fragen rund um Datenqualität und Subjektivität die wohl am häufigsten festgestellten und offensichtlichsten Schwächen der ESG-Integration.

Auch Irrtümer, Fehlverkäufe und Missverständnisse sollten nicht außer Acht gelassen werden. Der Feelgood-Faktor kommt nur dann zum Tragen, wenn er mit angemessener Offenlegung und Transparenz einhergeht. Die ESG-Integration, obgleich zweifellos von großem Nutzen für die Bewertung der Solidität potenzieller Anlagen, ist keineswegs der heilige Gral des nachhaltigen Investierens. ESG-Integration allein sollte nicht als Anlagerevolution wahrgenommen werden, die den Weg zu mehr Nachhaltigkeit ebnet.

Statt Anlagen auszuschließen, die ESG-Kriterien nicht erfüllen, rückt die aktive Einbindung von Anlagen, die sie erfüllen, als Marktpraxis zunehmend in den Fokus. Das ist zwar definitiv ein Schritt nach vorn, aber noch lange nicht genug.

Doch ESG-Integration ist auch kein Allheilmittel

Im Laufe des letzten Jahrzehnts war zu beobachten, dass immer mehr Anleger ESG-Kriterien in ihr Portfoliomanagement einbinden. Inzwischen beschreibt eine große Zahl an Vermögensverwaltern ihren Gesamtansatz des verantwortungsbewussten, nachhaltigen oder ethischen Anlegens mit „ESG-Integration“. Statt Anlagen auszuschließen, die ESG-Kriterien nicht erfüllen, rückt die aktive Einbindung von Anlagen, die sie erfüllen, als Marktpraxis zunehmend in den Fokus. Das ist zwar definitiv ein Schritt nach vorn, aber noch lange nicht genug. Um sicherzustellen, dass Anlagen tatsächlich eine positive Wirkung anstreben, müssen wir proaktiv vorgehen und als aktive Eigentümer handeln.

Auch wenn ESG-Anlagen ein wichtiges und notwendiges Werkzeug zur Neugestaltung unserer Welt darstellen, sind sie nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Vor allem sollten Anleger verstehen (und Berater deutlich kommunizieren), dass die Möglichkeiten verschiedener Aktivaklassen mitunter sehr begrenzt sind, wenn es darum geht, etwas zu bewirken. So stellen Aktien- und Anleihenkäufe auf dem Sekundärmarkt lediglich private Tauschhandel dar und keine direkten Bargeldausgaben an Unternehmen. Desinvestitionen von ESG-Nachzüglern werden sich, wenn überhaupt, kaum auf die Kapitalkosten der betroffenen Unternehmen auswirken, solange diese nicht an die Kapitalmärkte gehen müssen.

Wenn ein Anleger die Absicht hat, an der Gestaltung einer besseren Zukunft mitzuwirken, lohnt es sich, zusätzliche Formen des nachhaltigen und verantwortungsbewussten Investierens bei börsennotierten Wertpapieren in Betracht zu ziehen. ESG-Integration ist nicht automatisch ein Gütesiegel für das Investieren in positiven Wandel. Die einzige Möglichkeit für Anleger, bei börsennotierten Wertpapieren eine erhebliche positive Wirkung zu erzielen, besteht darin, den eigenen Einfluss auf Unternehmen dahingehend zu nutzen. Als Aktionäre können wir Unternehmensstrategien auch durch die Nutzung unserer Stimmrechte und den direkten Austausch mit Unternehmen beeinflussen, indem wir zu Verbesserungen anregen.

Als Aktionäre können wir Unternehmensstrategien auch durch die Nutzung unserer Stimmrechte und den direkten Austausch mit Unternehmen beeinflussen, indem wir zu Verbesserungen anregen.

Engagement (bei Aktien und Anleihen) und/oder Verweigerung (bei Anleihen) ergänzen sich (fürs Erste)

Naturgemäß ist eine Aktie als Instrument ständig in Bewegung. Verkäufer werden durch Käufer (manchmal das Unternehmen selbst) ersetzt. Die Gewinnung von neuem Kapital ist in Anleihenmärkten wesentlich üblicher als in Aktienmärkten. Häufig wird vor allem die Emission von Anleihen zur Finanzierung neuer Projekte genutzt. Überdies tendieren große Kreditnehmer eher zur Refinanzierung als zur Tilgung von Schulden. Einen Kredit zu verweigern und so Unternehmen den Geldhahn zuzudrehen, die in puncto Nachhaltigkeitsstrategie nicht genug leisten, kann sich direkt auf die Finanzierungskosten dieser Unternehmen auswirken. Dialog und Engagement sollten auch dazu führen, dass Anleiheemissionen stärker von ESG-Zielen abhängig gemacht werden. Covenants – Instrumente, anhand derer der Kreditgeber dem Kreditnehmer zusätzliche Bedingungen auferlegt – beziehen sich zwar in aller Regel auf Finanzkennzahlen, in Verbindung mit dem Fokus auf eine bestimmte Zielsetzung ist jedoch mit neuen Standards zu rechnen. Eine neue Generation von Anleihen widmet sich der Bekämpfung des Klimawandels und sozialen Zielen anhand der Einbindung von ESG-Covenants. Vor diesem Hintergrund kündigte der italienische Öl- und Energiekonzern Eni im Dezember 2020 an, die den bestehenden, fast vier Milliarden Euro schweren Anleihen zugrunde liegenden Verträge mit seinen Banken zu ändern, um neue Bedingungen zur Berücksichtigung einzelner UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Ziel 7 und 13) hinzuzufügen. Diese Anleihen werden somit einen Anreizmechanismus für Anleger schaffen, der sich danach richtet, inwiefern nachhaltige Performance-Ziele erreicht wurden.

Anleger können eine bedeutende Rolle einnehmen, wenn es darum geht, das oberste Ziel einer widerstandsfähigen, nachhaltigen Wirtschaft zu erreichen. Als Anlageexperten müssen wir zudem transparent und bescheiden genug sein, um diesen Übergang zu ermöglichen und Anleger dabei unterstützen, das Risiko von berechtigtem Frust aufgrund fehlender Klarheit zu mindern. ESG-Integration ist notwendig, um den Übergang hin zu einem nachhaltigen Finanzwesen zu erleichtern. Doch für sich allein genommen ist ESG-Integration nicht genug.

Wenn das Anlageziel darin besteht, durch die Kapitalzuweisung an die Unternehmen mit den größten sozialen Erträgen einen positiven Kreislauf anzustoßen, sind mehr Anstrengungen und Ambitionen erforderlich. Darin besteht die soziale Verantwortung der Anleger, um unsere Gesellschaft voranzubringen. Es ist das, was Kapitalmärkten Legitimität gibt.

ESG-Integration sollte nicht davon ablenken, dass andere Anregungen und Unterstützungsmöglichkeiten im Hinblick auf soziale und ökologische Aspekte weitreichendere Fortschritte bei Unternehmen bewirken können.

ESG-Integration sollte nicht davon ablenken, dass andere Anregungen und Unterstützungsmöglichkeiten im Hinblick auf soziale und ökologische Aspekte weitreichendere Fortschritte bei Unternehmen bewirken können. ESG-Integration ist gut, reicht aber nicht mehr aus.

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Published by
Olivier Goemans
Tags: Anlegerprofil Investitionen

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