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April 26, 2024

Expertenmeinung: „Unternehmen geben keine Prognosen mehr ab”

Im April stabilisierten sich risikoreiche Anlagen, da die nahezu „bedingungslose“ geld- und fiskalpolitische Unterstützung die Anleger beruhigte. Aktien konnten etwa 25 % der Verluste, die sie durch die Verkaufswelle während der Baisse im Februar und März erlitten hatten, wieder ausgleichen – trotz der Flut an katastrophalen Wirtschaftsdaten und des schweren Einbruchs der Ölpreise, der aus dem Missverhältnis aus Angebot und schrumpfender Nachfrage resultierte (die Preise der WTI-Futures waren sogar vorübergehend negativ, da Ölanbieter aufgrund nicht ausreichender Lagerkapazitäten in den USA keine Abnehmer fanden).

Gegen Monatsende begann die Berichtssaison für das erste Quartal. Da in jenem Zeitraum auch die Coronavirus-Krise ihren Anfang nahm, wissen wir letztlich nur, dass wir nicht wissen, was vor uns liegt, da die Welt gleichzeitig mit einem Angebots- und Nachfrageschock zu kämpfen hat. Zum ersten Mal überhaupt sind die wichtigsten Kennzahlen für Analysten der Zeitraum, den ein Unternehmen ohne Umsätze überleben kann (ein Problem, das viele Unternehmen trifft), und das aktuelle Liquiditätsniveau in der Bilanz. Von der exponentiellen Bilanzoptimierung, die wir in den letzten zehn Jahren beobachten konnten, sollten wir uns dagegen verabschieden.

„IBM zieht seine Prognosen für das Gesamtjahr 2020 in Anbetracht der aktuellen COVID-19-Krise zurück.“ IBM

„Aufgrund der großen Unsicherheit des aktuellen Umfelds halten wir es für klug, vorerst keine Prognosen mehr für das Geschäftsjahr 2020 abzugeben.“ Coca-Cola

„In Anbetracht der mangelnden Prognosesicherheit in Bezug auf die COVID-19-Pandemie und eine etwaige Erholung sieht das Unternehmen vorläufig davon ab, einen finanziellen Ausblick zu präsentieren.“ AT&T

„Aufgrund der sich rasch verändernden Situation und der großen Unsicherheit sind wir der Überzeugung, dass wir die finanziellen Auswirkungen auf das Gesamtjahr nicht mit ausreichender Genauigkeit abschätzen können, und halten es daher für sinnvoll, diesmal keine Prognosen für das gesamte Geschäftsjahr 2020 abzugeben.“ Hershey

Zurückgenommene Prognosen sind das beherrschende Thema der aktuellen Berichtssaison schlechthin. Oben findet sich eine kleine Auswahl an Aussagen der zahlreichen Unternehmen, die sich außerstande sehen, gegenüber den Anlegern Schätzungen zur zukünftigen Gewinnentwicklung abzugeben. Die Pandemie sorgt einfach für beispiellose wirtschaftliche Unsicherheit.

Wir stehen vor einer Vielzahl von Unbekannten, und die CEOs und Finanzchefs der Unternehmen tappen genauso im Dunkeln wie jeder andere auch.

Wir stehen vor einer Vielzahl von Unbekannten, und die CEOs und Finanzchefs der Unternehmen tappen genauso im Dunkeln wie jeder andere auch. Niemand weiß, wann die Neuinfektionsrate den Zenit erreicht oder wie lange die Entwicklung und Verteilung eines Impfstoffs dauern werden. Niemand weiß, wie sich Unternehmen und Verbraucher nach der Aufhebung der Ausgangssperren verhalten werden. Wird sich die Verbrauchernachfrage wieder erholen? Wie schnell wird sich die Wirtschaft erholen? Werden entlassene Arbeitnehmer wieder eingestellt?

Unter dem Eindruck dieser Unsicherheit haben die Analysten ihre Gewinnwachstumserwartungen für 2020 drastisch nach unten korrigiert. Da sich gleichzeitig die Aktienkurse nach oben bewegt haben, sind Aktien durch diese Korrekturen aus Sicht der Bewertungen genauso teuer wie im Februar, bevor die Coronavirus-Krise ihren Lauf nahm. Die Anleger scheinen sich gegenwärtig allerdings nicht an den Fundamentaldaten zu orientieren. Die Stimmung an den Märkten ist positiv, da allgemein erwartet wird, dass die Konjunkturpakete ausreichen werden, um das Überleben der Unternehmen zu sichern und die Wirtschaft im Jahr 2021 wieder in die Spur zu bringen. Tatsächlich gehen die Konsensschätzungen davon aus, dass die Gewinne im Jahr 2021 um 23 % gegenüber 2020 steigen werden. Das könnte durchaus möglich sein, denn das Jahr 2020 wird sicherlich mühelos zu übertreffen sein. Dieser Wert gibt aber auch an, dass die Gewinne Stand jetzt im Jahr 2021 um 5 % im Vergleich zu den Rekordzahlen des Jahres 2019 steigen und zudem die Verluste des Jahres 2020 ausgleichen dürften. Wenn wir den S&P 500 betrachten, dauert es nach einer Rezession normalerweise drei bis vier Jahre, bis die Gewinne wieder so hoch sind wie zuvor (dies zeigen zum Beispiel die Jahre 1987, 2001 und 2008). Allerdings handelt es sich um eine sehr seltene menschengemachte Rezession mit einer potenziell kräftigen Erholung.

Einer Sache können wir uns einigermaßen sicher sein: Die Volatilität wird noch geraume Zeit andauern.

Einer Sache können wir uns einigermaßen sicher sein: Die Volatilität wird noch geraume Zeit andauern. Vor diesem Hintergrund bevorzugen wir weiterhin hoch kapitalisierte, hochwertige Titel mit soliden Bilanzen sowie hohen freien Cashflows und Cash-Renditen, die in einer vergleichsweise besseren Verfassung sind, um die aktuelle Unsicherheit zu überstehen. Diese Unternehmen werden die Fähigkeit und Flexibilität besitzen, sich auf die Zukunft einzustellen, denn Ausdauer ist gegenwärtig entscheidend. Wir haben keine Präferenz für einen bestimmten Sektor. Vielmehr konzentrieren wir uns sektorübergreifend auf unternehmensspezifische Kriterien. Das liegt hauptsächlich daran, dass es innerhalb der einzelnen Sektoren erhebliche Abweichungen gibt. Teilsektoren wie Telearbeit, Cloud Computing, E-Commerce, Streaming und Telemedizin, deren langfristige Aussichten ohnehin bereits gut waren, können infolge der Krise noch stärker zulegen.

Zum Abschluss etwas Positives: Diese Berichtssaison könnte dem Finanzsystem den Anstoß zu einer eher langfristigen Denkweise und mehr Weitblick geben, während die Welt allmählich vom „Shareholder“-Kapitalismus zu einem Modell des „Stakeholder“-Kapitalismus wechselt. Vor zwei Jahren riefen der CEO von JP Morgan, Jamie Dimon, und der renommierte Investor Warren Buffett in einem gemeinsamen Gastkommentar börsennotierte Unternehmen dazu auf, keine Prognosen zu Quartalsgewinnen mehr zu veröffentlichen. Sie erklärten, dass solche Prognosen den kurzfristigen Gewinnen mehr Bedeutung beimessen als der langfristigen Nachhaltigkeit und die Unternehmen kurzfristig möglichst gute Zahlen anstreben würden, anstatt in die Zukunft zu investieren. Bislang zeigt sich die alte Weisheit, dass Märkte nichts mehr verabscheuen als Unsicherheit, noch nicht in den Aktienkursen.