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Dezember 25, 2024

Klimaretterin EZB?

  Olivier Goemans myINVEST September 23, 2021 1194

Die Klimapolitik obliegt nicht den Zentralbanken; die wichtigsten Hebel in diesem Zusammenhang liegen außerhalb ihrer Mandate. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die Realität ignorieren und sich angesichts des Klimanotstands entspannt zurücklehnen können. Was kann die Europäische Zentralbank (EZB) tun, um einen Beitrag zur „Dekarbonisierung“ der Wirtschaft zu leisten und den Klimawandel zu bekämpfen?

Ein Mandat, zwei Hebel

Obgleich ihr Mandat ausschließlich die Sicherung der Preisstabilität in der Realwirtschaft umfasst, agiert die EZB auch als Aufsichtsbehörde für das europäische Bankensystem. Als letztendliche Eigentümerin der Euro-Notenpresse unterliegt das Institut weder einem Drucklimit noch einem Insolvenzrisiko.

Der EZB steht es frei, Geld zu verleihen, zu verschenken oder zu entleihen – an wen bzw. von wem, so viel und zu welchem Preis sie möchte. Die einzige Einschränkung bildet Artikel 123 des Lissabonner Vertrags, in dem es heißt: „Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten […] für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind […] verboten.“ Das einzige, was der EZB in der Praxis untersagt ist, ist somit die direkte Vergabe von Krediten an Staaten.

Die Geldpolitik der EZB umfasst Darlehen an Banken sowie quantitative Lockerung (Quantitative Easing, QE) über Anleihekäufe – die moderne Art des Gelddruckens. Somit verfügt das Institut theoretisch über zwei Hebel, um im Kampf gegen den Klimawandel aktiv zu werden: grüne Darlehen und dekarbonisiertes Quantitative Easing.

Die EZB verfügt über zwei Hebel in der Klimakrise: grüne Darlehen und dekarbonisiertes Quantitative Easing.

Auf dem Weg zu einem dekarbonisierten Quantitative Easing

An den Finanzmärkten herrscht derzeit ein hoher Bedarf an Liquiditätsspritzen durch die Zentralbanken. Warum sollte das nicht für die Energiewende genutzt werden? Bisher geht die EZB strategisch neutral vor und kauft ohne spezielle Einschränkungen Schuldtitel verschiedener Wirtschaftsbereiche an, abgesehen von im Vorfeld festgelegten Zulässigkeitskriterien. Wenn sie dekarbonisierten Unternehmen den Vorzug geben würde, hätte dies eine große Signalwirkung für die Finanzmärkte. Eine solche Maßnahme wäre alles andere als unbedeutend: So entfallen von den zwischen 2015 und Mitte 2021 durch die EZB angehäuften Finanzwerten von 4 Billionen Euro etwa 320 Milliarden auf Anleihen von Privatunternehmen.

Um ihr Anleihekaufprogramm mit dem Kampf gegen die Erderwärmung in Einklang zu bringen, sollte die EZB ihren Sicherheitenrahmen anpassen und den Haircut bei Anleihen auf Aktivitäten mit geringer Kohlenstoffintensität senken. Der Haircut wäre auf diese Weise nicht mehr allein vom Solvabilitätskoeffizienten der Anleihe bzw. dem Rückzahlungsrisiko abhängig, sondern auch von dem Klimarisiko, das sich aus der Tätigkeit des Unternehmens ergibt.

Durch die Anwendung dieser Strategie und die Senkung der Kreditkosten für grüne Aktivitäten würde die EZB Investitionen erheblich in Richtung eben solcher Aktivitäten lenken. Das ist gut. Aber noch nicht gut genug. Grünen Anlagen den Vorzug zu geben ist eine Sache. Priorität und Dringlichkeit liegen jedoch bei der Senkung der Treibhausgasemissionen. Zusätzlich zu einer europäischen Taxonomie zur Identifizierung grüner Aktivitäten sollte eine „braune“ Taxonomie eingeführt werden, um kohlenstoffintensive Aktivitäten zu sanktionieren.

Grünen Anlagen den Vorzug zu geben ist eine Sache. Priorität und Dringlichkeit liegen jedoch bei der Senkung der Treibhausgasemissionen.

Grüne Darlehen fördern

Zusätzlich zu einem Quantitative Easing mit geringer Kohlenstoffintensität könnte die EZB auch die geltenden Sicherheitenregelungen für den Zugang zu Long-Term Refinancing Operations (LTRO) oder besser noch, zu gezielten LTRO (TLTRO) ändern. Bei diesen längerfristigen Geschäften, die derzeit zu günstigeren Zinsen angeboten werden als LTRO, handelt es sich um Refinanzierungsmechanismen für Banken, die ausschließlich für neue Kredite an die Realwirtschaft zur Verfügung stehen.

Sollte die EZB sich entschließen, mit der Einführung von „Green TLTRO“ die Finanzierung vorbildlicher Firmen zu fördern, so käme dies vor allem den betreffenden kleinen und mittelständischen Unternehmen zugute. Diese finanzieren sich in Europa überwiegend über Banken. Und warum sollte sie das auch nicht tun? Unkonventionelle Strategien der Geldpolitik haben sich im Laufe der Zeit fest etabliert. Der Kreativität scheint in dieser Hinsicht wahrhaft keine Grenze gesetzt. Nur ein paar Tabus bestehen weiterhin.

Die Frage ist daher, ob die Dekarbonisierung mit dem Mandat der EZB vereinbar ist. In politischer Hinsicht ist dies nach wie vor offen. Bei der Einführung des QE-Programms in Europa hat die EZB ihre Fähigkeit bewiesen, ihr Handeln auf ihr Mandat abzustimmen und dabei einen Kausalzusammenhang zwischen Handlung und gewünschtem Ergebnis herzustellen, der nicht unbedingt direkt und offensichtlich ist.

Der Trittbrettfahrer

Der Klimawandel ist eine Quelle unvorhersehbarer und systemischer Risiken. Für Wirtschaftswissenschaftler stellt die globale Erwärmung eine Art Marktversagen dar. Die Spieltheorie lehrt uns, dass der Schutz eines Gemeingutes ein komplexes Unterfangen ist, bei dem das moralische Risiko dem Erreichen eines optimalen kollektiven Nutzens entgegensteht. Dieses Phänomen, von Ökonomen Trittbrettfahrerproblem genannt, ist eine Realität, die bei der Einbeziehung des Klimawandels und des Umgangs mit Rohstoffen in die Wirtschaftstheorie beobachtet wurde.

Der Trittbrettfahrer macht sich eine Situation zunutze, ohne den Preis dafür zu bezahlen. Zu Zeiten der Seefahrt war die Lösung recht einfach: Im Allgemeinen warf man den blinden Passagier einfach über Bord, um ihn nicht durchfüttern zu müssen. Heutzutage ist die Vorgehensweise offensichtlich eine andere. Diese Art parasitäres Verhalten wird in der Regel durch eine von den zuständigen Behörden festgelegte Mischung aus Anreizen und Zwängen in Schach gehalten. Bei der Trittbrettfahrertheorie gibt es zwei Arten von Akteuren: Die Nutznießer der asymmetrischen Situation und die Opfer, die für die anderen mitbezahlen. Wie die Geschichte gezeigt hat, haben die Opfer in der Regel irgendwann genug von der Ausbeutung und rebellieren. Die Moral von der Geschicht‘: Wahrscheinlich ist es die Pflicht der EZB, mit ihrer Geldpolitik ein Wirtschaftsmodell zu fördern, bei dem Kapitalströme in grüne und nachhaltige Projekte gelenkt werden. Kaum denkbar in einem neoliberalen Umfeld, in dem die Finanzmärkte die Gleichgewichtspreise frei festlegen.

Es ist nicht überraschend, dass sich die EZB derzeit mit der Beauftragung von technischen Studien begnügt und nicht in der Lage ist, zwischen dem Risiko einer Destabilisierung der Märkte und dem Klimarisiko zu entscheiden.

Es ist nicht überraschend, dass sich die EZB derzeit mit der Beauftragung von technischen Studien begnügt und nicht in der Lage ist, zwischen dem Risiko einer Destabilisierung der Finanzmärkte (Übergangsrisiko) und dem Klimarisiko zu entscheiden. Es sei daran erinnert, dass die Neutralität der EZB nicht Bestandteil der Verträge ist. Wir haben es hier daher mit einer ideologischen Debatte zu tun, nicht mit einer rechtlichen.

Das Dilemma dieser Debatte ist offenbar die Frage nach einem Mittelweg zwischen der Klima- und der Wirtschaftswissenschaft. Dabei wird außer Acht gelassen, dass es sich bei ersterer um eine exakte Wissenschaft handelt, die sich auf objektive Daten stützt. Letztere hingegen beruft sich auf die Humanwissenschaften, die hauptsächlich auf den teilweise modellierbaren – und äußerst irrationalen – Verhaltensweisen wirtschaftlicher Akteure beruhen. Mit dieser Tatsache ist die Diskussion zwar nicht direkt geklärt, sie zu berücksichtigen sollte jedoch zumindest zu einer besseren Abwägung der vorgebrachten Argumente führen.

Eine Führungsfrage

Bislang scheint die Umsetzung des QE-Programms der Europäischen Zentralbank häufig von dem Versuch der Nachahmung dessen geprägt zu sein, was in zahlreichen Ländern der Welt bereits eingeführt wurde. Angesichts dessen stellt sich die Frage nach der Führungskompetenz und der Bereitschaft, mutige Entscheidungen zu fällen.

Die im Januar 2021 von Christine Lagarde gehaltene Rede ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich in Bezug auf das Verständnis der bestehenden Herausforderungen und Tücken. Zur Veranschaulichung nimmt sie einleitend Bezug auf die Fabel „Der Rat der Ratten“[1] von Jean de La Fontaine, in der die versammelten Nagetiere zwar eine Lösung für ihr Problem finden, aber keine den Mut hat, diese auch in die Tat umsetzen. Angesichts der Beschleunigung der politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Erderwärmung und des erklärten Ziels der CO2-Neutralität scheint es angebracht, eine Intervention durch die Zentralbank nicht als Risiko, sondern als Chance zur Vermeidung der Katastrophe zu betrachten, die sich aus der Untätigkeit ergeben würde.

(…) eine Intervention durch die Zentralbank nicht als Risiko, sondern als Chance zur Vermeidung der Katastrophe betrachten, die sich aus der Untätigkeit ergeben würde.

Das gemeinsame Engagement der Zentralbanken im Kampf gegen die Erderwärmung zeigt sich deutlich daran, dass inzwischen 95 Zentralbanken und Aufsichtsbehörden Teil des NGFS (Network for Greening the Financial System) sind. Es wird immer klarer, welche Rolle sie spielen: Neben dem Erfahrungsaustausch und dem Teilen bewährter Praktiken tragen sie auch und vor allem zur Verbesserung des Umgangs mit dem Umwelt- und Klimarisiko im Bereich Finanzdienstleistungen bei und mobilisieren das traditionelle Finanzwesen dahingehend, dass ein Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft gefördert wird.

Abschließend sei daran erinnert, dass Europa den Kampf gegen den Klimawandel als Priorität behandelt und Ziele, politische Leitlinien und Regulierungen etabliert hat, um den Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft zu fördern. Die EZB mag zwar die technokratische Institution schlechthin sein, sie spielt jedoch eine entscheidende Rolle bei diesem Übergang. Sie hat eine Vorbildfunktion, ist aber zugleich Motor und Koordinator des Wandels. Im Übrigen sind die EU-Verträge in dieser Hinsicht unmissverständlich. Da die Europäische Union das Übereinkommen von Paris unterzeichnet hat, sind all Ihre Institutionen an dieses gebunden. Klarer ausgedrückt: Die EZB ist indirekt Unterzeichnerin des Pariser Klimaabkommens.

Die Ökologisierung ihrer Bilanzen wird für alle Banken zur Priorität – auch für die Zentralbanken. Ob dies ausreicht, um das bestehende System zu dekarbonisieren, bevor es zu spät ist, bleibt abzuwarten.


1 In der Fabel „Der Rat der Ratten“ geht es um eine Gruppe Ratten, die von einer Katze bedroht werden. Die Ratten beschließen, eine Glocke am Hals der Katze zu befestigen, um ihre Ankunft stets hören und rechtzeitig fliehen zu können. Die Geschichte zeigt, wie schwer es sein kann, gefällte Entscheidungen auch in die Tat umzusetzen – analog zum bereits erwähnten Trittbrettfahrerproblem.