Meine Finanzen, meine Projekte, mein Leben
April 18, 2024

Können Buchhalter die Welt retten?

  Olivier Goemans myINVEST Februar 1, 2023 806

Wenn es um den Kampf gegen den Klimawandel geht, denken die meisten an die spektakulären Aktionen von Aktivistengruppen, die regelmäßig Schlagzeilen machen. Nur wenige sind sich hingegen über die Rolle im Klaren, die bestimmte Berufsgruppen, die nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, beim nachhaltigen Umbau der Wirtschaft auf globaler Ebene spielen können. Dazu gehören möglicherweise auch Buchhalter!

„Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Selbstverständlich berichten die Medien nicht über Züge, die pünktlich am Zielort ankommen. Schließlich ist dies kein spannendes Thema, auch wenn es großen Einfluss auf den Alltag von Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel hat. Mit anderen Worten: Eine gut geölte Maschine läuft einfach im Hintergrund. Man bemerkt sie erst, wenn sie ins Stocken gerät.

Das ist einer der Gründe, warum positive Meldungen in den Medien und sozialen Netzwerken einen gewissen Seltenheitswert haben. Es ist eine Tatsache: Schlechte Nachrichten erzeugen mehr Aufmerksamkeit. Da ist sogar die Frage berechtigt, ob bei einer guten Nachricht überhaupt noch von einer „Nachricht“ die Rede sein kann. Vor mehr als 50 Jahren stellte der Pionier der Medienanalyse Marshall MacLuhan fest, dass schlechte Nachrichten die wirklichen Nachrichten sind. Anders ausgedrückt, kann das Sprichwort „Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“ auch umgedreht werden: „Eine gute Nachricht ist keine Nachricht“ (good news is no news). Doch nur weil eine Information für die Medien nicht interessant ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht wichtig ist!

Das Sprichwort „Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“ kann auch umgedreht werden: „Eine gute Nachricht ist keine Nachricht“.

Klimawandel und Klimaangst

Über den Klimawandel, die Zerstörung der Ökosysteme und der Biodiversität wird in den Medien ausführlich berichtet – zu Recht. Die Klimakatastrophen nehmen zu, weshalb immer mehr Menschen unter der sogenannten Klimaangst leiden. Angesichts dieser Ängste sind zwei klassische Tendenzen zu beobachten: Resignation oder radikaler Aktivismus.

Ohne eine konkrete Strategie für den Umgang mit dieser Angst vorschlagen zu wollen: Meiner Auffassung nach scheinen negatives Denken und Inaktivität das Hauptproblem in diesem Zusammenhang zu sein. Angesichts des Ausmaßes der Klimakrise den Mut zu verlieren, die eigenen Bemühungen in Zweifel zu ziehen und in einen passiven Widerstand zu verfallen, erscheint mir wenig sinnvoll. Ein solches Verhalten erinnert an das traurige Schicksal eines Kaninchens, das im Scheinwerferlicht eines Autos vor Schreck erstarrt.

Radikalismus ist aus meiner Sicht allerdings ebenfalls keine überzeugende Option für Unternehmen, selbst wenn sich dadurch Aufmerksamkeit erzeugen lässt. Denn auch wenn viele Unternehmer bereits für das Thema sensibilisiert sind, bleibt noch viel zu tun, um ihr Bewusstsein für Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu schärfen.

Wie sollte man also vorgehen? Es empfiehlt sich, einen Schritt zurückzutreten, eine langfristige Perspektive einzunehmen und auf das zu blicken, was bereits erreicht wurde. Nur weil positive Nachrichten weniger Aufmerksamkeit erhalten, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Die Fortschritte der Menschheit werden in den täglichen Schlagzeilen nur unzureichend abgebildet, und bahnbrechende Innovationen finden meist im Verborgenen statt. Wer auf Distanz geht und eine langfristige Perspektive einnimmt, kann erkennen, dass Dinge, die in der Vergangenheit als unmöglich oder sogar als Spinnerei angesehen wurden, heute bereits Realität sind. Die gestiegene Lebenserwartung ist hierfür ein anschauliches Beispiel.

Der Buchhalter als Motor von Veränderungen

Nicht nur positive Nachrichten gehören ins Reich der Langeweile. Vor allem eine Berufsgruppe nimmt hier ebenfalls einen besonderen Platz ein. Banker und Buchhalter sind geradezu besessen von Kalkulationstabellen, Gewinn- und Verlustrechnungen und Cashflows. Ihr Beruf gilt für viele als Inbegriff der Langeweile.

Was, wenn der Schlüssel für die Lösung der ökologischen und sozialen Herausforderungen der Wirtschaft in der Buchhaltung der Unternehmen liegt?

Was, wenn der Schlüssel für die Lösung der ökologischen und sozialen Herausforderungen der Wirtschaft in der Buchhaltung der Unternehmen liegt? Um Gesetze einzuhalten und wettbewerbsfähig zu bleiben, Investoren anzuziehen und die Erwartungen von Kunden und Mitarbeitern zu erfüllen, müssen Unternehmen den Klimawandel in ihren Plänen und Strategien berücksichtigen. Die Messung der Exposition gegenüber Klimarisiken, des CO2-Fußabdrucks sowie der ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen sind strategische Voraussetzungen. Die Chancen einer nachhaltigen Wirtschaft zu erkennen, ist ebenfalls unerlässlich. Genau das sind Aufgaben für einen „Klimabuchhalter“!

US Steel veröffentlichte 1903 als erstes Börsenunternehmen einen Geschäftsbericht, dessen finanzielle Korrektheit von einem externen Wirtschaftsprüfer bestätigt wurde. Dem normalen Anleger standen damals nur wenige Informationen zur Verfügung, auf die er seine Investitionsentscheidungen stützen konnte: Aktienkurs, Dividende und ungeprüfte Umsatz- und Gewinnzahlen des jeweiligen Unternehmens. Es dauerte noch etwa 30 Jahre, bis die Pflicht zur Prüfung der Finanzberichte eingeführt wurde, um Richtigkeit und Transparenz der Buchführung zu gewährleisten. Anschließend folgten noch viele weitere Jahrzehnte, bis sich die heute geltenden Rechnungslegungsstandards (International Financial Reporting Standards, IFRS) durchsetzten.

Im Jahr 2012 erklärte Peter Bakker1 auf der Konferenz der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro, dass „Buchhalter die Welt retten werden“. Was sich damals wie ein postrevolutionärer T-Shirt-Slogan anhörte („Accountants can save the world through peace, goodwill and reconciliation“), scheint sich heute als stille und unsichtbare Revolution zu vollziehen.

Es muss sichergestellt werden, dass Unternehmensberichte nicht nur ein realistisches Bild der Finanzlage vermitteln, sondern auch aufzeigen, wie das Unternehmen Geld verdient.

Die Idee dahinter, die heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist: Es muss sichergestellt werden, dass Unternehmensberichte nicht nur ein realistisches Bild der Finanzlage vermitteln, sondern auch aufzeigen, wie das Unternehmen Geld verdient. Neben den Geldströmen sollen also auch die physischen Ströme gemessen werden. Das Ziel dahinter: Die Interessengruppen sollen nicht nur Aufschluss über die Kapitalrendite, sondern auch über das Management des Natur- und Humankapitals erhalten.

Einfache und doppelte Materialität

Um stärker gegen falsche Versprechungen bei nachhaltigen Geldanlagen vorzugehen, treiben die Aufsichtsbehörden die Harmonisierung von Standards und Regeln voran. Dabei stehen sich leider zwei sehr unterschiedliche Konzepte gegenüber. Das angelsächsische Modell der einfachen Materialität konkurriert mit dem europäischen Modell der doppelten Materialität bzw. Wesentlichkeit.

Das Konzept der einfachen Materialität oder finanziellen Materialität berücksichtigt nur Informationen zu positiven und negativen Auswirkungen des Human- oder Naturkapitals auf das Unternehmen. Bei der doppelten Materialität hingegen werden darüber hinaus die Auswirkungen des Unternehmens auf das Humankapital und die Umwelt gemessen.

Aus wissenschaftlicher Perspektive steht seit langem fest: Die doppelte Materialität muss sich durchsetzen. Die Realität sieht allerdings anders aus. So konkurriert das angelsächsische Modell mit vielseitigeren Modellen, bei denen die Auswirkungen auf den Planeten und mindestens die CO2-Bilanz berücksichtigt werden.

Aus wissenschaftlicher Perspektive steht seit langem fest: Die doppelte Materialität muss sich durchsetzen.

Standards und Klimabuchhalter

Wenn man über Rechnungslegungsstandards spricht, muss man auf einige Akronyme und Akteure aus diesem Bereich eingehen. Das International Sustainability Standards Board (ISSB) wurde 2021 von der IFRS Foundation gegründet. Es soll Nachhaltigkeitsstandards (IFRS-S oder International Financial Reporting Standards on Sustainability) entwickeln und fördern, um Investoren die Möglichkeit zu bieten, sich über nachhaltigkeitsbezogene Risiken und Chancen zu informieren. Bisher wird bei den IFRS-S-Standards „nur“ auf einfache Materialität gesetzt. Der Übergang zu einem Wirtschaftssystem, das die Grenzen unseres Planeten berücksichtigt, kann jedoch nur im Rahmen der doppelten Materialität erfolgen. Die Europäische Kommission hat über die EFRAG (European Financial Reporting Advisory Group) die derzeit einzige Initiative angestoßen, die auf einem Ansatz der doppelten Wesentlichkeit beruht.

So oder so ist klar, dass sich der Beruf des Buchhalters verändert. Buchhalter sind zentrale Akteure des Wandels. Heute geht es nicht mehr nur darum, zirkuläre Bezüge in riesigen Tabellenkalkulationen zu erkennen, sondern eine Buchhaltung zu entwickeln, die einer Kreislaufwirtschaft gerecht wird. Risiken der Abhängigkeit der Unternehmen von knappen Umweltressourcen oder im Zusammenhang mit nicht normgerechten Arbeitsbedingungen und Löhnen müssen gemeldet und gemanagt werden.

Wer hat mehr Einfluss – Buchhalter oder eine Gruppe von Aktivisten, die mit ihren symbolischen Aktionen dafür sorgen, dass Klimathemen ganz oben auf der Medienagenda stehen? Mir scheint, dass erstere mehr Möglichkeiten haben, um konkrete Lösungen für ökologische und gesellschaftliche Probleme zu entwickeln. Über ihre Arbeit wird vielleicht nicht auf den Titelseiten berichtet, ihr Einfluss ist jedoch enorm. So ist es für Unternehmen heute selbstverständlich, den Aktionären mehr Transparenz zu bieten, und nach und nach werden Standards für die Berichterstattung über Nachhaltigkeitsthemen erarbeitet.

Der Beruf des „Klimabuchhalters“ entsteht gerade. Er ist eng mit dem operativen Geschäft und der Strategie der Unternehmen verbunden. Diese Tätigkeit ist alles andere als langweilig und beschränkt sich nicht darauf, Buchungen auf T-Konten vorzunehmen. Jede neue Generation blickt anders auf die Welt als ihre Eltern. Die aktuelle Generation hat ganz andere Ziele, Erwartungen und Werte, die die Wahrnehmung, die wir von bestimmten Tätigkeiten haben sollten, von Grund auf ändern.

Welche Schlüsse lassen sich aus alledem ziehen? Auch wenn Buchhalter vermutlich nicht die Welt retten werden, können sie einen wesentlichen Beitrag leisten.


1 Peter Bakker ist CEO des World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) und früherer CEO von TNT NV.