Menschenrechte – Für Unternehmen und Anleger keine Nebensache mehr
Im November 2023 nahm der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zum Thema extreme Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, die CEOs drei bedeutender US-Konzerne (Walmart, Amazon und DoorDash) ins Visier. Er rief sie auf, zu den Vorwürfen ausbeuterisch niedriger Löhne Stellung zu nehmen, die für ihre Beschäftigten zur Armutsfalle werden und sie zwingen, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Das war ein klares Zeichen, dass Menschenrechtsverletzungen keine nebensächliche Problematik mehr darstellen, sondern für Unternehmen weltweit zu einer immer dringlicheren Angelegenheit werden.
De Schutter bezog sich auf einen Bericht des US-Rechnungshofs (Government Accountability Office). Aus diesem geht hervor, dass Walmart und Amazon zu den US-Unternehmen gehören, deren Beschäftigte am häufigsten über Medicaid, das bundesstaatliche Krankenversicherungsprogramm für Geringverdiener, versichert sind. Walmart steht auf Rang eins und Amazon auf Rang sechs. Die unerwünschte öffentliche Aufmerksamkeit verdeutlicht, unter welchem Druck Unternehmen stehen, nicht nur auf die finanziellen und ökologischen Risiken, sondern auch auf die sozialen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit zu achten.
Überlegungen zu sozialen Aspekten, wie Menschenrechten, standen bei der Frage, wie Unternehmen ESG-Themen angehen (zu denen auch die Unternehmensführung zählt), bis vor Kurzem im Schatten von Klima- und Umweltfragen. Während der Klimawandel mittlerweile zu einem fest etablierten Schwerpunkt bei der Gesetzgebung geworden ist und von den Anlegern größere Beachtung erhält, steigt nun zusehends der Druck, auch bei sozialen Themen – insbesondere Menschenrechten – eine Rechenschaftspflicht zu gewährleisten.
Gesetzesinitiativen in der EU
Diese Konzentration auf Menschenrechte findet sich, vor allem in Europa, allmählich auch in der Gesetzgebung wieder. Im Februar 2022 veröffentlichte die Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen, ein Beratungsgremium der Europäischen Kommission, ihren Abschlussbericht, in dem sie eine Struktur für eine Sozialtaxonomie analog zur EU-Taxonomie für ökologisch nachhaltige Tätigkeiten vorschlägt. Das ist ein einheitliches Klassifizierungssystem für ökologische Tätigkeiten und Ziele, das die Grundlage für den europäischen Grünen Deal und Rechtsvorschriften wie die Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor bildet.
Seitdem ging es mit der Sozialtaxonomie jedoch kaum voran, was bei institutionellen Anlegern, die verstärkt in Projekte mit positiven sozialen Auswirkungen investieren möchten, für Unmut sorgt.
Ein weiterer Baustein der EU-Gesetzesinitiativen, die Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (Lieferkettenrichtlinie), soll die Richtlinie hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen ergänzen. Ziel ist es, die Standards für die Berichterstattung und die Sorgfaltspflichten so auszuweiten, dass größere Unternehmen negative Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt nicht nur im Rahmen ihrer eigenen Geschäftstätigkeit, sondern auch bei ihren Tochtergesellschaften und in ihren Lieferketten ermitteln, beenden oder verhindern, eindämmen und Rechenschaft darüber ablegen müssen.
Im April 2024 verabschiedete das Europäische Parlament einen Kompromisstext. Dieser wurde von den Mitgliedstaaten befürwortet, nachdem der Widerstand gegen den ursprünglichen Gesetzesvorschlag die Verabschiedung der Lieferkettenrichtlinie insgesamt zu blockieren drohte. Die Schwelle, von der an Unternehmen unter diese Regeln fallen, wurde von einer Mindestanzahl an 500 Beschäftigten auf mindestens 1.000 Beschäftigte angehoben; statt eines Nettoumsatzes von 150 Mio. Euro ist nun ein Nettoumsatz von 450 Mio. Euro ausschlaggebend. Die vorgeschlagene Einführung niedrigerer Schwellenwerte für Hochrisikosektoren wurde um mindestens zwei Jahre verschoben. Insgesamt reduziert sich die Zahl der von der Richtlinie betroffenen Unternehmen durch die Änderungen um zwei Drittel.
Rechtliche Risiken
Mit dem Gesetzeskompromiss entfällt auch die Möglichkeit für zivilgesellschaftliche Gruppen, Unternehmen aufgrund schädlicher sozialer oder ökologischer Auswirkungen ihrer Lieferketten zu verklagen. Die meisten Finanzinstituten sind nun ebenfalls von den Vorgaben der Lieferkettenrichtlinie ausgenommen, was sich allerdings später noch ändern kann.
Einige dieser Themen werden schon von bestehenden nationalen Gesetzen abgedeckt. Beispielsweise erließ Frankreich 2017 ein eigenes Gesetz über Sorgfaltspflichten. Auslöser hierfür war der verheerende Einsturz des Gebäudes der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei dem es über 1.130 Tote und 2.500 Verletzte unter den Beschäftigten von Unternehmen gab, die Bekleidung für westliche Marken herstellten. Anfang 2023 trat das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten in Deutschland in Kraft, das Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Lieferketten auf mögliche Menschenrechtsverletzungen hin zu überwachen.
Menschenrechtsverletzungen und ausbeuterische Arbeitsbedingungen können zu einem großen Image-, Rechts- und Finanzrisiko für Unternehmen werden.
Menschenrechtsverletzungen und ausbeuterische Arbeitsbedingungen können zu einem großen Image-, Rechts- und Finanzrisiko für Unternehmen werden, beispielsweise für diejenigen, die bei ihren Fertigungsprozessen auf billige Arbeitskräfte setzen. 2021 erhoben acht Kinder vor einem US-Gericht Klage gegen die weltgrößten Schokoladenhersteller und warfen ihnen vor, sie auf Kakaoplantagen in Côte d’Ivoire als Arbeitssklaven eingesetzt zu haben.
In einem zweiten Fall, der 2023 von International Rights Advocates vor Gericht gebracht wurde, sollte die US-Regierung zur Umsetzung eines Bundesgesetzes aus den 1930er Jahren gezwungen werden, das die Einfuhr von Produkten, die mithilfe von Kinderarbeit hergestellt wurden, in die USA verbietet. Die Geldbeträge, um die es dabei geht, stellen für große Konzerne zwar keine große Belastung dar, aber die Imageschäden können immens sein.
Finanzielle Kosten
In einigen Fällen kann die Missachtung von Menschenrechten jedoch auch ganz beträchtliche finanzielle Folgen haben. Der britische Textilhersteller Boohoo hatte stolz auf seine Fertigungskapazitäten im Vereinigten Königreich verwiesen, doch während der Corona-Pandemie fanden die Medien Belege für Ausbeutung in den Fabriken des Konzerns in Leicester. Der Aktienkurs von Boohoo fiel gegenüber seinem Höchststand von 413 GBP im Juni 2020 um über 90% und hat sich bis heute noch nicht wieder vollständig erholt.
In einem Bericht von Wirtschaftswissenschaftlern der Monash University in Melbourne und der Universität Oxford aus dem Jahr 2021 wurde nachgewiesen, dass es die Bewertung eines Unternehmens am Aktienmarkt stark beeinträchtigen kann, wenn dieses auf irgendeine Weise mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wird. In besonders schwerwiegenden Fällen kann ein Unternehmen deshalb sogar ganz aus dem Markt verdrängt werden.
Selbst in weniger schweren Fällen können solche Vorwürfe erhebliche Kostensteigerungen und entsprechende Verluste nach sich ziehen, vor allem, wenn Unternehmen neue Lieferanten suchen müssen und ihre Produkte deshalb zwischenzeitlich nicht verfügbar sind. Unter Umständen erleiden sie aufgrund von Kundenboykotten Umsatzeinbußen, haben Schwierigkeiten, neue Mitarbeiter zu finden und ihre Marke wird dauerhaft geschädigt. All dies kann die Rendite der Anleger schmälern.
Beurteilung von Risiken aufgrund von Menschenrechtsverletzungen
Wie können Anleger sicherstellen, dass die Unternehmen, deren Aktien sie im Portfolio haben, auf mögliche Rentabilitätsrisiken in ihrer Lieferkette achten? Die Beurteilung dieser Risiken ist nicht immer einfach. Unternehmen müssen nicht nur ihre eigenen Beschäftigten, sondern ihre gesamte Lieferkette im Blick haben. Die in der Vergangenheit vorgebrachte Rechtfertigung, dass die Herstellung in einem weit entfernten Land durch ein Unternehmen erfolgt, das den dortigen Vorschriften unterliegt, dürfte sie nun nicht mehr von ihrer Verantwortung entbinden.
Unternehmen müssen die Tätigkeiten innerhalb ihrer Lieferkette überwachen und verstehen, und zwar unabhängig davon, in welcher Region der Welt sie ausgeführt werden, und sie müssen in der Lage sein, schnell auf Kritik oder vermeintliche Missstände zu reagieren. Die Reaktion einiger Unternehmen bestand darin, ihre Lieferketten dichter an ihr Heimatland zu verlagern (obgleich dabei auch die Verwerfungen nach der Corona-Pandemie eine Rolle gespielt haben) oder zu vertrauenswürdigen, wenn auch möglicherweise teureren Anbietern zu wechseln.
Fondsmanagementgesellschaften und Vermögensverwalter setzen zunehmend auf eigene Teams, die sich mit den Unternehmen, in denen sie anlegen, über Menschenrechte, Arbeitsbedingungen und andere soziale Themen austauschen. Sie nehmen die Lieferantenbeziehungen der Portfoliounternehmen unter die Lupe und prüfen, wie diese ihre Beschäftigten behandeln, setzen sich beim Auftreten von Problemen mit der Geschäftsführung in Verbindung und bemühen sich um eine möglichst schnelle Lösung.
Vielfach schließen sich die Anleger zusammen, um stärkeren Druck auszuüben und die Unternehmen, in die sie investieren, zu Änderungen zu bewegen. Das kann ein wichtiger Schritt zum Erhalt des Wertes ihrer Anlagen sein und um weitreichendere Änderungen in ganzen Branchen oder Volkswirtschaften zu fördern. Wenn sich Unternehmen uneinsichtig zeigen und alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, verkaufen die Anlageverwalter möglicherweise ihre Aktien und dies könnte dann auch andere Anleger zum Ausstieg bewegen.
Solche aktivistischen Anlegerinitiativen dürften an Bedeutung gewinnen, wenn die Aufsichtsbehörden ihre Kontrollen intensivieren, neue Gesetze die sozialen Faktoren stärker in den Blickpunkt rücken und die Anleger die Auswirkungen von Menschenrechtsverletzungen und ähnlichen Themen auf das Finanzergebnis von Unternehmen immer besser verstehen.
Unternehmen, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, erleiden unter Umständen Umsatzeinbußen aufgrund von Kundenboykotten, haben Schwierigkeiten, neue Mitarbeiter zu finden und ihre Marke wird womöglich dauerhaft geschädigt. All dies kann die Rendite der Anleger schmälern.