Verhaltensökonomie und kognitive Verzerrungen
Menschen sind im Hinblick auf ihre Beziehungen, Präferenzen, Gewohnheiten oder Kaufentscheidungen oftmals unvorhersehbar. Das trifft auch auf den Bereich Anlagen zu. Die Entwicklung von Börsenkursen hat die Irrationalität vieler Anleger in bestimmten Situationen vielfach zum Vorschein gebracht. Dies war insbesondere während der Finanzkrise von 2008 der Fall, aber auch wenn die Anleger nach Phasen der Euphorie auf dem harten Boden der Realität landeten, wie etwa bei der Dotcom-Blase Ende der 1990er Jahre. Die Verhaltensökonomie untersucht diese Irrationalität und die dafür verantwortlichen kognitiven Verzerrungen. Wir geben Ihnen einen Überblick.
Seien wir ehrlich: So sehr wir uns auch bemühen, wir können uns nicht vollkommen rational verhalten. Trotz dieser Irrationalität, die Teil des Homo sapiens zu sein scheint, betrachteten die Finanztheoretiker den Anleger jedoch lange als Homo oeconomicus, der sämtliche Entscheidungen wohlüberlegt trifft. Gemäß den Theorien beschafft sich der ideale Anleger alle verfügbaren Informationen, um diese gründlich zu analysieren. Auf dieser Grundlage stellt er geeignete Berechnungen an und entscheidet anschließend in Kenntnis der Sachlage, wie er seine genau identifizierten und definierten Ziele am besten erreichen kann. Diese Theorie nennt man das Modell des ideal oder rational handelnden Wirtschaftssubjekts.
Der Vorteil dieser Theorie ist, dass mit ihr zuverlässige Prognosen erstellt werden können. Allerdings scheinen diese mitunter keinerlei Zusammenhang mit den tatsächlich an den Börsen beobachteten Verhaltensweisen aufzuweisen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Wirtschaftswissenschaften eine Humanwissenschaft und keine Naturwissenschaft sind, die Experimente unter Laborbedingungen reproduzieren kann.
Mit dem Aufkommen der Verhaltensforschung wurden nach und nach neue Modelle entwickelt. Sie versuchen, die begrenzte oder gar rudimentäre Rationalität der Mehrheit der Anleger aus Fleisch und Blut zu berücksichtigen.
Die Verhaltensforschung hebt die Faktoren und kognitiven Verzerrungen hervor, die eine Person bei der Entscheidungsfindung beeinflussen können.
Die Verhaltensforschung stützt sich neben den Wirtschaftswissenschaften auf die Sozialwissenschaften, wie etwa die Psychologie, und konzentriert sich auf die Gedankengänge der Menschen sowie auf deren tatsächliches Verhalten. Sie hebt insbesondere die – häufig unbewussten – Faktoren und kognitiven Verzerrungen hervor, die eine Person bei der Entscheidungsfindung beeinflussen können. Unter kognitiven Verzerrungen versteht man in der Regel unbewusste Gedankengänge, die nicht auf einer logischen Denkweise beruhen und die Verarbeitung von Informationen verfälschen. Diese Verzerrungen dienen dazu, die Entscheidungsfindung durch eine vereinfachte und unvollständige Verarbeitung der internen (unser Gedächtnis) oder externen (unser Umfeld) Informationen zu beschleunigen. Sie sind nicht an sich schlecht und können in extremen Krisensituationen oder bei akuten Gefahren entscheidend sein. Wenn Entscheidungen jedoch eine rationale und möglichst objektive Analyse erfordern, können sie sich überaus nachteilig auswirken.
Die Wissenschaft, die das Verhalten und die kognitiven Verzerrungen von Anlegern untersucht, nennt man Verhaltensökonomie. Diese Disziplin wurde insbesondere im Jahr 2017 bekannt, als Richard Thaler für seinen Beitrag zum „Verständnis der Psychologie der Ökonomie“ mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet wurde.
Doch lassen wir nun die Theorie beiseite und wenden wir uns zum besseren Verständnis einigen Beispielen zu. myLIFE hat für Sie einen Überblick mit vier der bekanntesten Arten von kognitiven Verzerrungen erstellt, damit Sie diese bei Ihren eigenen Entscheidungen erkennen und ihre Folgen mindern können.
1. Der Bestätigungsfehler
Diese Verzerrung trifft zwar nicht ausschließlich auf Anlageentscheidungen zu, sie gehört jedoch zu den Verzerrungen, die im Leben eines Anlegers die größten Schäden verursachen. Unter dem Bestätigungsfehler versteht man die Tatsache, dass nur Informationen und Ereignisse berücksichtigt werden, die bestehende Gedanken bestätigen, und alles, was unseren Auffassungen widerspricht, zu ignorieren oder zu verharmlosen. Zumeist führt dies bei der Erstellung einer Anlagestrategie zu einem umgekehrten Vorgehensweise (Reverse Engineering). Das gewünschte Resultat stellt den Ausgangspunkt dar, und es werden nur Argumente ausgewählt und berücksichtigt, die dieses Ergebnis stützen.
Niemand entwickelt gerne Szenarien oder analysiert gerne Aspekte, die der eigenen Meinung widersprechen. Um möglichst rationale Anlageentscheidungen treffen zu können, ist ein solches Verhalten jedoch zwingend erforderlich. Wer bei Anlagen den Kopf in den Sand steckt, wird mit Sicherheit nicht nur viel Geld verlieren, sondern auch Gewinnchancen verpassen.
Bei Gewinnen und Verlusten in gleicher Höhe ist die Freude am erzielten Gewinn geringer als die Enttäuschung durch den erfahrenen Verlust.
2. Risiko- und Verlustaversion
Bei Anlagen sind wir von verlustbringenden Positionen geradezu besessen. Selbst wenn sich die große Mehrheit unserer Positionen gut entwickelt, sehen wir nur den Titel, der seit zwei Wochen im Minus ist, und wir warten leidvoll darauf, dass er endlich wieder im Kurs steigt. Ganz nach der Weisheit „besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach“ schwören wir uns, in Zukunft besser aufzupassen und Anlagen mit geringerem Risiko auszuwählen. Dieses Verhalten nennt man Risikoaversion.
Bei Gewinnen und Verlusten in gleicher Höhe ist die Freude am erzielten Gewinn geringer als die Enttäuschung durch den erfahrenen Verlust. Das verleitet uns zu irrationalen Entscheidungen, indem wir etwa ein schlechtes Ergebnis mit einer schlechten Entscheidung verwechseln. Diese Verzerrung kann uns daher davon abhalten, einen Titel zu behalten, den wir aus guten Gründen ausgewählt haben, der sich aber gerade schlecht entwickelt. Aufgrund der Risikoaversion sind wir daher geneigt, den Titel abzustoßen, wenn er sein Kurstief erreicht hat. Wenn die Fundamentaldaten des Wertpapiers allerdings nach wie vor solide sind, wäre dies zweifelsohne der beste Moment, um die Position aufzustocken.
Demgegenüber kann die Verlustaversion bestimmte Anleger dazu verleiten, an einem Titel festzuhalten, dessen Kurs sich im Sturzflug befindet und dessen Fundamentaldaten sich dauerhaft stark verschlechtert haben. Diese Anleger hoffen dann darauf, dass sich das Wertpapier erholen und ihnen Gewinne bescheren wird.
3. Selbstüberschätzung und Selbstabwertung
Wie der Name bereits sagt, bezeichnet Selbstüberschätzung die Tendenz, die eigenen Fähigkeiten übertrieben positiv zu bewerten. Im Anlagebereich bedeutet dies die Überzeugung, trotz offensichtlicher gegenteiliger Anzeichen stets Recht zu haben, oder vor allen anderen die Anlagegelegenheit des Jahrhunderts entdeckt zu haben.
Unter dem Vorwand, es besser zu wissen, verleitet diese Verzerrung Anleger oftmals dazu, häufiger das Portfolio umzuschichten. Die dadurch entstehenden Transaktionskosten können die Gesamtrentabilität eines Portfolios jedoch letztendlich stark belasten – insbesondere, wenn sich herausstellen sollte, dass sich die neuen Anlagen nicht deutlich besser entwickelt haben als der Markt.
Das Gegenteil der Selbstüberschätzung ist die Selbstabwertung. Hierbei führt der Anleger im Voraus eine Reihe von gerechtfertigten oder nicht gerechtfertigten Gründen an, warum sich die Portfoliotitel höchstwahrscheinlich schlecht entwickeln werden. Das ist in etwa so, wie wenn man vor einer Klassenarbeit vorgibt, nicht gelernt zu haben, um eine möglicherweise schlechte Note zu rechtfertigen, bevor man überhaupt ein Ergebnis hat. Für den Fall, dass sich eine Anlage tatsächlich schlecht entwickeln sollte, sind Anleger somit auf mögliche Enttäuschungen psychologisch vorbereitet. Was spricht auch dagegen, wenn man sich so besser fühlt? Das Problem bei dieser Verzerrung ist, dass sie den Anleger vor allem davon abhält zu handeln – unabhängig davon, ob es um den Kauf oder Verkauf einer Position geht.
Diese Verzerrung kann dazu führen, dass man unfähig ist, eine Position zu verkaufen, deren zugrunde liegende Aktivität Hinweise auf eine Verschlechterung bietet, weil man bereits einen großen Betrag investiert hat.
4. Versunkene Kosten
Haben Sie schon mal im Voraus Karten für ein Theaterstück gekauft und dann erfahren, dass die Aufführung schlecht ist und ein Freund am selben Abend eine super Party organisiert? Die meisten würden dann trotzdem ins Theater gehen, da man die Karten ja bereits bezahlt hat. Statt uns zu amüsieren, verbringen wir also einen schlechten Abend. Aber immerhin haben wir keinen Cent mehr ausgegeben als den für die Theaterkarte investierten Betrag! Mit „versunkene Kosten“ bezeichnet man eine Vorgehensweise, bei der man sich aufgrund einer Investition in der Vergangenheit, die in keiner Weise mehr zurückerlangt werden kann, irrational verhält und sich bietende Möglichkeiten falsch bewertet.
In Bezug auf Anlagen kann diese Verzerrung dazu führen, dass man unfähig ist, eine Position zu verkaufen, deren zugrunde liegende Aktivität Hinweise auf eine Verschlechterung bietet, weil man bereits einen großen Betrag investiert hat. In diesem Fall muss man sich die Frage stellen, was man tun würde, wenn es sich nicht um das eigene Geld sondern um das Geld einer anderen Person handeln würde.
Die Verhaltensökonomie untersucht die kognitiven Verzerrungen, die Anleger bei der Entscheidungsfindung unbewusst beeinflussen. Ein Bewusstsein für den Faktor Mensch und die Verzerrungen, die uns beeinflussen, ermöglichen uns, wohlüberlegtere Anlageentscheidungen zu treffen. Dieser Artikel geht zwar auf einige dieser Verzerrungen ein, er erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das myLIFE-Team wird dieses Thema daher in Zukunft wieder aufgreifen, damit Sie alle bei Anlagen zu berücksichtigenden Faktoren besser verstehen und Entscheidungen in Zukunft bewusster treffen können.
Dieser Artikel gehört zur Aufzeichnung Artikelserie „Verhaltensökonomie“
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