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April 26, 2024

Anlagen als Achtsamkeitserfahrung

  Olivier Goemans myINVEST Februar 23, 2021 1463

Der Weg zum verantwortungsvollen und nachhaltigen Handeln ist weder glatt noch geradlinig – und es gibt diverse Abzweigungen. Es ist ein schwieriger Weg voller Unebenheiten und Schlaglöcher. Und auch einer, der verschiedene Wahlmöglichkeiten bietet. Jeder Mensch hat seine eigenen Prioritäten, die bezeichnend dafür sind, wer er ist und wer er sein möchte. Eine Art endlose Liste persönlicher Überlegungen.

Ich bin ein glühender Verfechter von Überlegungen und Maßnahmen im Bereich der Nachhaltigkeit. Ich gebe zwar mein Bestes, um mich von sturem Optimismus leiten zu lassen, doch regelmäßige Weckrufe führen mir die Komplexität des Themas, meine persönlichen Grenzen und kognitive Verzerrungen immer wieder aufs Neue vor Augen. Und um ehrlich zu sein, mangelt es auch nicht an berechtigter Kritik.

Wenn mich die Kritik meiner inneren Stimme oder meines Umfelds zu überwältigen droht, rufe ich mir einfach meine Identität, mein stures Optimismus-Mantra wieder ins Gedächtnis. Das eingängige Zitat von Theodore Roosevelt „es gibt kein Bemühen ohne Fehler und Schwächen“ hallt mechanisch nach.

„Es gibt kein Bemühen ohne Fehler und Schwächen“ (Theodore Roosevelt)

„Zu jedem Risiko, das es wert ist, eingegangen zu werden, gehören Schmerz und Verlust.“ Das gilt für das wahre Leben ebenso wie für die Investmentbranche. Da Wirtschaftswissenschaften eine menschliche Disziplin sind und Anlagen beträchtliche verhaltensbezogene Erwägungen voraussetzen, sollte es nicht verwundern, dass es für nachhaltiges Anlegen kein Patentrezept gibt.

Wie der Naturforscher David Attenborough sagte: „Wir sind an einem einzigartigen Punkt in unserer Geschichte angelangt. Niemals zuvor war das Bewusstsein dessen, was wir dem Planeten antun, so groß, und niemals zuvor hatten wir die Macht, etwas dagegen zu tun.“ Wir haben auch die außergewöhnliche Macht, die größte aller Herausforderungen zu meistern. Die Art, wie wir unser Geld anlegen, gehört dabei zum Werkzeug.

Doch nachhaltiges Anlegen ist kein gegen jedes Unwetter gefeiter Motor, der einen sicher durch den Überschwang und die Schocks des Kapitalmarkts steuert. Investitionen in einen Kontext übergeordneter Werte zu stellen, bedeutet, dass Anleger abgesehen von der erwarteten Rendite auch stolz darauf sein möchten, wie sie ihr Geld angelegt haben. Das bedeutet nicht, dass die Rendite besser oder schlechter, oder der Weg einfacher oder härter wäre.

Achtsamkeit ist eine Qualität, die jeder Mensch bereits in sich trägt. Es ist nichts, das man erst heraufbeschwören oder umständlich erlernen muss.

Jeder Anleger sollte darüber im Klaren sein, dass Unsicherheit eine Realität ist. Alle gegensätzlichen Behauptungen sind in erster Linie Hirngespinste. Haben Anleger das einmal verstanden, dann haben sie den ersten Schritt in Richtung achtsames Anlegen gemacht. Der nächste Schritt bei diesem Experiment der Achtsamkeit1 besteht darin, in dem Wissen, dass das Verständnis der Risiken wesentlich für erfolgreiches Anlegen ist, auch die Faktoren Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) zu berücksichtigen. Wir sollten nicht vergessen, dass Achtsamkeit eine Qualität ist, die jeder Mensch bereits in sich trägt. Es ist nichts, das man erst heraufbeschwören oder umständlich erlernen muss.

Wussten Sie zum Beispiel, dass sogar das renommierte CFA Institute2 einen Leitfaden zu ethischer Achtsamkeit für professionelle Finanzdienstleister herausgegeben hat? Das verdeutlicht einmal mehr, dass Anleger mit Metakognition (das Bewusstsein des Bewusstseins an sich) und Impulskontrolle (selbst zu entscheiden, wie und was man denkt) wesentlich besser fahren. Beides hilft dabei, Voreingenommenheit, Bevorzugung und Befangenheit zu vermeiden. Gute Voraussetzungen, um sich den schwerwiegenden Beeinträchtigungen zu stellen, die uns angesichts der fortgeschrittenen Umweltzerstörung bevorstehen.

Es ist zwar offensichtlich, dass die Einbeziehung von ESG-Kriterien in Anlageentscheidungen die risikobereinigte Rendite verbessert, aber das heißt nicht, dass sich dies in täglichen Zuwächsen niederschlägt. Einige Tage, Wochen oder sogar Jahre könnten negative Ergebnisse mit sich bringen.

Der klassische Nachteil bei der Berücksichtigung von ESG-Kriterien ist die Qualität der Daten. „Was man nicht messen kann, kann man nicht lenken“, wie Peter Drucker es ausdrückte. In der Welt des verantwortungsvollen Anlegens sind ESG-Ratings von Natur aus weder präzise noch homogen. Für Anleger, die ESG-Faktoren in ihren Anlageprozess einbeziehen möchten, ist die Analyse der Ratings äußerst wichtig. Alle Rating-Anbieter arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Methoden. So kann es vorkommen, dass ein Unternehmen von einem Anbieter ein gutes ESG-Rating und von einem anderen ein schlechtes erhält. Fazit ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt durch das Fehlen sowohl von Berichterstattungsstandards für Unternehmen als auch einer allgemeingültigen Methode seitens der Datenlieferanten uneinheitliche Ergebnisse vorprogrammiert sind. Die Bewertung eines Unternehmens anhand von ESG-Kriterien ist von Natur aus subjektiv.

Der einzige Weg zur Vermeidung irreführender Informationen besteht darin, ein Verständnis für die zugrundeliegende Herangehensweise sowie ihre Stärken und Schwächen zu entwickeln. Für Anlageverwalter bedeutet dies, ESG-Daten als Research-Instrument zu nutzen. Für Kunden bedeutet es, sich über das ESG-Rating des Anlageprodukts hinaus einen Eindruck von den Nachhaltigkeitszielen und Handlungsstrategien des Unternehmens zu verschaffen.

Aus meiner optimistischen Sicht lässt sich sagen, dass ESG-Ratings zwar nicht perfekt, aber dennoch wertvoll sind. Niemand sollte die Berücksichtigung von ESG-Kriterien als Lösung begreifen, die per Knopfdruck fertig verfügbar ist. Research ist weiterhin Priorität Nummer eins bei der Vermögensverwaltung. Das ist aus finanzieller und traditioneller Sicht ebenso wahr wie bei einzelnen Nachhaltigkeitserwägungen. Es gibt kein Zaubermittel, um falschen Anlageentscheidungen und Greenwashing-Risiken zu entgehen. Anstrengung, Dazulernen und Skepsis auf der einen sowie Demut, Bewusstsein und Transparenz auf der anderen Seite sind nach wie vor Grundvoraussetzungen.

Es gibt kein Zaubermittel, um falschen Anlageentscheidungen und Greenwashing-Risiken zu entgehen.

Die Berücksichtigung von ESG-Kriterien sollte als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung erachtet werden. Anlagen in chancenreichen Feldern rund um Megatrends wie saubere Energie, sauberes Wasser und Energieeffizienz stehen weiter an vorderster Stelle, da diese zu den nächsten großen globalen Branchen werden müssen.

Den Worten Taten folgen zu lassen, ist anstrengend, aber in jedweder Hinsicht notwendig. Zu Beginn ist dies ein anspruchsvolles Unterfangen, aber es entwickelt sich schnell zu einer Art Routine. Es ist eine Reise zu Klarheit und Fokus, im vollen Bewusstsein aller Grenzen und Komplexitäten.


1 Achtsamkeit ist die grundlegende menschliche Fähigkeit, vollständig präsent und sich dessen bewusst zu sein, wo wir sind und was wir tun, statt übertrieben zu reagieren und von dem, was uns umgibt, überwältigt zu werden.

2 Das CFA Institute ist eine internationale gemeinnützige Organisation von Finanzanalysten, die Bildungsangebote für Anlagespezialisten bietet. Ihr Ziel ist es, weltweit ethische, bildungsbezogene und berufliche Exzellenz-Standards in der Investmentbranche zu fördern.