Anlegerverhalten als Triebkraft der Aktienmärkte
Zwischen der Finanzkrise und dem Jahr 2017 legten die US-Aktienmärkte über rund neun Jahre zu. Im Hinblick auf bestimmte Kennzahlen, die für Anleger von Interesse sind, erreichten die Bewertungen von Aktien neue Höchststände. So belief sich etwa die Bewertung von Amazon ungefähr auf das 180-fache des Jahresgewinns. Dennoch war das Interesse der Anleger ungebremst. Laut dem Dachverband der europäischen Investment-Verbände EFAMA investierten Anleger im dritten Quartal 2017 rund 190 Mrd. Euro in OGAW-Fonds. Anfang 2019 sind die Preise zwar circa 20 % niedriger, das Kaufinteresse hat sich jedoch in Luft aufgelöst. Im dritten Quartal 2018 investierten Anleger nur etwa 3 Mrd. Euro in Fonds. Vergleicht man dies mit dem Umsatz im Januar, stellt man fest, dass Anlegern dasselbe Produkt, das im vergangenen Jahr noch sehr begehrt war, zu einem günstigeren Preis angeboten wird. Doch nun will es niemand mehr kaufen. Wie lässt sich dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten erklären?
Tief verwurzelte Instinkte
Das Problem liegt darin, dass das Anlageverhalten vieler Anleger von Verhaltensmustern beeinflusst wird. Unser Verhalten beruht auf tief verwurzelten Instinkten, die eher darauf ausgerichtet sind, in der afrikanischen Steppe zu überleben, als Geld an den Aktienmärkten zu verdienen. Sie animieren uns dazu, das Verhalten anderer nachzubilden, an bereits Bekanntem festzuhalten und anhand weniger Informationen spontane Entscheidungen zu treffen. Wenn sie nicht kontrolliert werden, führen diese Verhaltensmuster häufig zu schlechten Anlageentscheidungen.
Die eigentliche Frage lautet nicht, ob man sich über diese Probleme sorgen sollte, sondern ob sich die Sorgen angemessen in den Aktienkursen widerspiegeln.
Heute würde ein Anleger wohl sagen, dass sich die Weltwirtschaft verlangsamt, der Ausblick ungewiss ist und er Anlagen am Aktienmarkt daher eher nicht in Betracht zieht. Natürlich gibt es viele Probleme, über die man sich sorgen kann. Der Handelskonflikt zwischen den USA und China, die Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Brexit und die politische Instabilität in Italien sind allesamt Entwicklungen, die das globale Wirtschaftswachstum belasten. Die eigentliche Frage lautet jedoch nicht, ob man sich über diese Probleme sorgen sollte, sondern ob sich die Sorgen angemessen in den Aktienkursen widerspiegeln. Nach dem Rückgang von 20 % berücksichtigen die Aktienkurse diese auf jeden Fall besser als noch vor einem Jahr.
Wissen in Bezug auf die verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung ist nützlich, um derartige irrationale Verhaltensweisen zu thematisieren und sicherzustellen, dass diese langfristig nicht die Anlagerenditen beeinträchtigen. Die verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung ist heute eine boomende Disziplin. Während Forscher zu Beginn nur einige dieser Wesenszüge ermittelt haben, ist die Liste im Laufe der Zeit immer länger geworden. Heute sind mehr als 200 Verzerrungen dokumentiert, die von „altersbezogener Positivität“ bis zum „Halo-Effekt“ reichen. Einer begrenzten Anzahl von Verzerrungen, die das tagtägliche Verhalten an den Märkten zu großen Teilen erklären, kommt jedoch besondere Bedeutung zu.
Herdenverhalten und Blasenbildung
Das Herdenverhalten ist eines der Marktphänomene, die sich am leichtesten erkennen lassen. Beliebte Anlagen beruhigen Anleger instinktiv, wie die Entwicklungen bei Technologiewerten und Kryptowährungen zeigen.
Kurzfristig gesehen führt dies zu steigenden Kursen und alle sind glücklich. Es lässt sich jedoch nur schwierig beurteilen, wann diese Stimmung umschlagen wird. Und wenn es dann soweit ist und das Kartenhaus zusammenfällt, kann dies sehr schmerzhaft sein. Der Bitcoin-Kurs lag Anfang 2019 zum Beispiel rund 80 % unter seinem Höchststand von Dezember 2017. Das Herdenverhalten liegt jeder Investitionsblase zugrunde, von der Tulpenmanie in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts bis zur Dotcom-Blase Ende der 1990er Jahre.
Selbst die für ihre Einblicke und Analysen am meisten geschätzten Fondsmanager treffen sehr wahrscheinlich nur in 60 % der Fälle die richtigen Entscheidungen.
Erfolge und Katastrophen
Anleger neigen zu Selbstgefälligkeit, wenn sich eine Anlage gut entwickelt, und zu übertriebener Schwarzmalerei, wenn sich eine Anlageentscheidung als falsch erweist. Sie erinnern sich tendenziell an die größten Erfolge und Katastrophen, wobei Erfolge sie zu der Annahme verleiten, ihre Fähigkeiten wären den anderen überlegen. Dabei könnte es sich um eine Form der rückwirkenden Verzerrung handeln: Obwohl Menschen bei der Vorhersage der Zukunft in der Regel überaus schlecht sind, glauben wir, dass wir in der Vergangenheit zukünftige Ereignisse richtig vorhergesehen haben.
Katastrophen können zu übertriebenem Pessimismus führen, sodass Anleger ihre Fähigkeiten in Frage stellen und lieber auf liquide Mittel setzen. Doch in Wahrheit liegt einfach jeder mal daneben. Selbst die für ihre Einblicke und Analysen am meisten geschätzten Fondsmanager treffen sehr wahrscheinlich nur in 60 % der Fälle die richtigen Entscheidungen. Denn die Märkte sind schlicht und ergreifend unberechenbar. Viel schlimmer ist jedoch, dass übertriebener Pessimismus dazu führen kann, dass Anleger nicht vom langfristigen Wachstum der Aktienmärkte profitieren, weil sie bei der Verteilung der Anlagen zu vorsichtig vorgehen.
Damit eng verbunden ist der Bestätigungsfehler. Dieser beschreibt das Verhalten, wenn sich Anleger nur auf Belege stützen, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen, und gegenteilige Beweise ignorieren. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen über viele Jahre erfolgreich war und seinen Anlegern große Gewinne beschert hat, kann man Warnsignale wie Schwierigkeiten in einem wichtigen Markt oder eine geringe Nachfrage nach einem neuen Produkt leicht verdrängen. Anleger suchen dann nach Gründen, die dafür sprechen, dass es sich nach wie vor um ein gutes Unternehmen handelt, wie etwa eine erfahrene Geschäftsführung oder konstante Dividenden in der Vergangenheit. Mit einer derart irrationalen Entscheidungsfindung verschließen Anleger unter Umständen die Augen vor der Wirklichkeit.
Anleger, die dem Ankereffekt zum Opfer fallen, halten tendenziell zu lange an Anlagen fest, die an Wert verloren haben, da sie den Kaufpreis und nicht die Fundamentaldaten des Unternehmens als Grundlage für den geschätzten angemessenen Wert ansetzen.
Ankereffekt und Gruppendenken
Der Ankereffekt beschreibt eine weitere Verhaltensweise, die einen Einfluss auf die Aktienkurse haben kann. Hierbei stützen sich die Anleger bei ihren Entscheidungen überproportional auf eine bestimmte Ausgangsinformation, wie zum Beispiel den für einen Vermögenswert gezahlten Preis. Anleger, die dem Ankereffekt zum Opfer fallen, halten tendenziell zu lange an Anlagen fest, die an Wert verloren haben, da sie den Kaufpreis und nicht die Fundamentaldaten des Unternehmens als Grundlage für den geschätzten angemessenen Wert ansetzen.
Finanzanalysten können beim Ankereffekt ebenfalls eine Rolle spielen, da deren Prognosen über die künftigen Gewinne eines Unternehmens zusammengenommen dessen Aktienkurs beeinflussen. Übertrifft der von einem Unternehmen erwirtschaftete Gewinn die Erwartungen der Analysten, steigt häufig der Aktienkurs. Bleibt der Gewinn jedoch hinter den Erwartungen zurück, kann der Aktienkurs fallen. So ist es möglich, dass ein Unternehmen seinen Gewinn zwar um 50 % steigert, sein Aktienkurs aber dennoch fällt, wenn die Märkte einen Zuwachs von 100 % erwartet hatten.
Wenn ein einzelner Analyst bei einem Unternehmen etwas Ungewöhnliches entdeckt – zum Beispiel ein neues Produkt dessen Verkaufserfolg maßgeblich übersehen oder unterschätzt wird –, könnte sich dieser Analyst aus dem Fenster lehnen und eine im Vergleich zu den übrigen Marktteilnehmern grundlegend andere Prognose veröffentlichen. Da es jedoch häufig unangenehm ist, Konsensmeinungen in Frage zu stellen, wird dieser Analyst seine Einschätzung vielleicht ein wenig anpassen. Dies könnte eine positive Entwicklung des Aktienkurses verlangsamen.
Irrtümer durch historische Bewertungen
Anleger überschätzen unter Umständen auch die Bedeutung der historischen Bewertungen eines Vermögenswerts. Nur weil der Euro Stoxx 50 in den vergangenen zehn Jahren stets über 1.810 Punkten notierte, bedeutet dies nicht, dass er morgen nicht unter diese Marke fällt. Denn das Einzige, was den Euro Stoxx über dieser Schwelle hält, sind hunderttausende individuelle Anlageentscheidungen. Anleger wiegen sich aufgrund historischer Bewertungen jedoch tendenziell in falscher Sicherheit und sind nicht im Stande, Risiken richtig einzuschätzen.
Darüber hinaus gibt es weitere Verzerrungen, von denen einige ausgefallener sind als andere. Für den „Mann mit Hammer“ ist jedes Problem ein Nagel; der Effekt der runden Zahlen führt dazu, dass Anleger leicht verständliche runde Zahlen bevorzugen; und der IKEA-Effekt beschreibt das Verhalten, dass Menschen Dinge unverhältnismäßig hoch bewerten, in die sie selbst Arbeit gesteckt haben.
Diese Verhaltensweisen lassen sich nicht komplett verhindern. Ein Bewusstsein für sie kann Anlegern jedoch dabei helfen, negative Folgen für die Zusammensetzung und Wertentwicklung eines Portfolios zu mindern. Anlageentscheidungsprozesse sind zwar nie vollständig rational, man trifft jedoch sicherlich eine bessere Wahl, wenn man unbewusste Verzerrungen erkennen kann.