„Buchstabensuppe: Welche Art der wirtschaftlichen Erholung steht auf der Karte?“
Das Coronavirus verändert mit einem tragischen und bedauerlichen Meilenstein im September weiter unser Leben: über eine Million Todesfälle, während die Zahl der bestätigten Infektionen die 33-Millionen-Marke überschritt. Unternehmen und Bürger passen sich gleichermaßen langsam an den neuen Normalzustand mit sozialem Abstand an. Dies hat ein teilweises Anziehen des Wachstums gefördert, dessen Dynamik jedoch fragil ist und sehr stark von den epidemiologischen Entwicklungen abhängt.
Hoffnungen auf einen „V“-förmigen Aufschwung sind verblasst. Dieser würde einen Aufschub der Produktion bedeuten, bei dem es letztendlich zu einem erneuten Anziehen des Wachstums käme. In diesem Szenario könnten die jährlichen Wachstumsraten den Schock voll und ganz abfedern (nach den Definitionen der Harvard Business School Review). Andererseits geht der IWF zum ersten Mal davon aus, dass alle Regionen in diesem Jahr ein negatives Wachstum verzeichnen werden, wobei allein China eine Ausnahme macht. Mit der nahezu uneingeschränkten Unterstützung der Zentralbanken und großzügigen fiskalpolitischen Anreizen könnte sich die garstige „L“-förmige Erholung abwenden lassen. In diesem Szenario würde Covid-19 erhebliche strukturelle Schäden anrichten, d. h. etwas auf der Angebotsseite der Wirtschaft zerbrechen – den Arbeitsmarkt, Kapitalbildung usw.
Was sich als plausible Hypothese herauskristallisiert, ist eine „K“-förmige Erholung, in der zwei voneinander abweichende Wege der Erholung enthalten wären.
Was sich als plausible Hypothese herauskristallisiert, ist eine „K“-förmige Erholung, in der zwei voneinander abweichende Wege der Erholung enthalten wären. Die aufwärts tendierende Linie symbolisiert die Teile der Wirtschaft, die von der Pandemie profitiert haben, nämlich Unternehmen mit einer festen Verwurzelung in Digitalisierung, Online-Einzelhandel und Unterhaltung, Technologie, KI und Robotik usw. Viele dieser Namen werden auch weiterhin von strukturellen Trends profitieren, die durch Covid-19 beschleunigt wurden, wie etwa Telearbeit, Telemedizin und E-Learning. Sie werden zu dauerhaften Facetten unseres neuen Normalzustands werden. Auch wenn die Lockdowns aufgehoben wurden, ist das Arbeiten von Zuhause immer noch stark verbreitet, werden Studienpläne von Universitäten online umgesetzt und sind Geschäftsreisen bis auf Weiteres vom Tisch. So hat Saudi-Arabien beispielsweise soeben mitgeteilt, dass das G20-Gipfeltreffen 2020 am 21. und 22. November virtuell stattfinden wird. Doch das Anlegen in solchen Aktien ist keine einfache Hinfahrkarte zu höheren Renditen, wie wir bei der heftigen Verkaufswelle Anfang September feststellen konnten. Das Epizentrum der Korrektur war der technologielastige NASDAQ-Index, der uns daran erinnerte, dass diese Aktien nicht immun gegen die Schwerkraft sind.
Die Abwärtslinie des „K“ symbolisiert all die Unternehmen, deren Geschäftsmodelle für absehbare Zeit auf den Kopf gestellt wurden. Da steigende Infektionszahlen die Länder zu mehr Strenge bei den Präventionsmaßnahmen zwingen, hat der Dienstleistungssektor (in dem persönliche Kontakte oft zur Tagesordnung gehören) vor allem in Europa zu leiden, während die Pandemie für viele traditionelle Einzelhändler der letzte Sargnagel zu sein scheint. Im September war nämlich der Tod des ältesten überdachten Einkaufszentrums Europas zu verzeichnen, nämlich des Elephant & Castle Shopping Centre in London. Fiskalpolitische Unterstützung wird eine unverzichtbare Rettungsleine für solche Unternehmen und ihre Mitarbeiter sein. Das macht den Stillstand in Washington bei den Verhandlungen über ein zweites Konjunkturpaket so problematisch.
Der Elefant im Zimmer ist nicht das Symboltier der Republikaner, sondern vielmehr die extreme politische Polarisierung in den USA, durch die [Markt-]Verwerfungen drohen.
Der Elefant im Zimmer ist das Symboltier der Republikaner, sondern vielmehr die extreme politische Polarisierung in den USA, durch die [Markt-]Verwerfungen drohen. Da die Wahlen am 3. November näher rücken, intensiviert sich die Offensive zwischen den beiden großen Parteien, und es gibt sogar Befürchtungen, dass Präsident Trump das Wahlergebnis anfechten könnte, mit der Begründung, dass die Briefwahl (die aufgrund der anhaltenden Pandemie in Anspruch genommen wird) seiner Einschätzung nach Wahlbetrug ermöglicht. Ein angefochtenes Wahlergebnis könnte zu einer Verfassungskrise führen, und der VIX-Index, ein Maß für die erwartete Volatilität des S&P500, sendet unheilvolle Signale, dass die Märkte nach den Wahlen mit länger andauernder Volatilität rechnen. Dies verleiht der Auswahl der nominierten Nachfolgerin von Ruth Bader Ginsburg im Supreme Court großes Gewicht. Denn der oberste Gerichtshof der USA spielt eine wichtige Rolle, wenn die Wahlergebnisse in Frage gestellt oder abgelehnt werden sollten. Die von Trump vorgestellte Kandidatin ist die US-Bundesrichterin Amy Coney Barrett. Die Anhörung im Ausschuss bezüglich der Ernennung könnte schon am 12. Oktober beginnen und, eine Abstimmung im Plenum des Senats könnte am Monatsende stattfinden (die Republikaner halten mit 53 zu 47 Stimmen die Mehrheit im Senat). Die Demokraten kämpfen mit harten Bandagen, um zu versuchen, die Nominierung zu blockieren.
Zusätzlich zur Pandemie und der politischen Ungewissheit in den USA wirft der Brexit weitere Sorgenfalten auf die bereits gekräuselte Stirn.
Zusätzlich zur Pandemie und der politischen Ungewissheit in den USA wirft der Brexit weitere Sorgenfalten auf die bereits gekräuselte Stirn. Für Verhandlungen über wichtige Themen wie Handel und Fischereirechte ist es kurz vor zwölf, da der britische Premierminister Boris Johnson verlauten ließ, dass ein Handelsabkommen vor dem 15. Oktober stehen müsse, wenn es bis zum Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember anwendbar sein solle. Die ohnehin schon komplizierte Lage wurde durch einen neuen Gesetzesentwurf von Premierminister Johnson noch weiter verschärft. Dieser setzt einen wesentlichen Bestandteil des im Januar unterzeichneten Austrittsabkommens außer Kraft und würde es Großbritannien erlauben, den Warenverkehr über die Irische See selbst zu regeln. So wie Elefanten nie vergessen, vergisst auch die internationale Gemeinschaft nicht ohne Weiteres, wenn ein Land sich aus einem Deal zurückzieht, der bereits besiegelt wurde. So wie die ehemalige britische Premierministerin Theresa May warnte, wird der Rückzug das „Vertrauen in das Vereinigte Königreich“ beschädigen.
Insgesamt schleppt sich die Wirtschaft langsam voran, aber die anhaltende Pandemie ist ein unüberwindbares Hindernis, das das Wirtschaftswachstum davon abhält, wieder auf Vorkrisenniveaus zu klettern. Der Ganesha1, der dieses Hindernis aus dem Weg räumen kann, ist ein Impfstoff. Mit Blick auf die Aktienmärkte sind wir weiterhin der Auffassung, dass die Gewinnschätzungen für 2021 zu hoch gegriffen sind und eher eine „V“-förmige Erholung widerspiegeln. Gleichzeitig könnte der Oktober ein volatiler Monat werden, wobei sich die letzte Etappe im Rennen um die Präsidentschaft, die Nominierung am Supreme Court und die Brexit-Gespräche auf die Stimmung niederschlagen werden. Dies lässt eine vorsichtige Haltung gegenüber dem Risiko im Portfolio und die Aufnahme von Volatilitätspuffern wie Gold und Staatsanleihen der Kernländer angebracht erscheinen.
1 Kleiner kultureller Diskurs: „Ganesha, der Beseitiger von Hindernissen“ ist eine der bekanntesten und am meisten verehrten Gottheiten im hinduistischen Pantheon, den man an seinem Elefantenkopf erkennt.