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November 18, 2024

Das Eis schmilzt!

  Olivier Goemans myINVEST Oktober 27, 2020 1221

Vor einigen Jahren startete die Eismanufaktur Ben&Jerry‘s eine Marketingkampagne mit einer blaugrünen Eiskugel und dem Slogan „If it‘s melted, it‘s ruined“ (Wenn es schmilzt, ist es ruiniert) – offensichtlich eine Metapher für die globale Erderwärmung und ihre Auswirkungen auf unseren Planeten. Seitdem das Unternehmen sein Geschäftsmodell verstärkt auf die sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit ausgerichtet hat, spielt es eine führende Rolle als Vorreiter und Inspirationsquelle.

Der Transparenz halber seien die Leser darauf hingewiesen, dass es sich bei dem vorliegenden Artikel im Grunde um ein persönliches Transkript meines Lieblings-Podcasts handelt: „Outrage and Optimism“, eine stete Quelle der Inspiration. Konkret geht es um die Folge vom 26. Juni 2020 mit Paul Polman (ehemaliger Geschäftsführer von Unilever).

Für viele von uns in der nördlichen Hemisphäre sind die durch den Klimawandel bedingten Zerstörungen noch immer kaum sichtbar. Doch die Corona-Pandemie war ein Weckruf: Sie hat uns unsere Zerbrechlichkeit deutlich vor Augen geführt. Wer heutzutage den Klimawandel leugnet, kann meiner Ansicht nach ebenso gut behaupten, er glaube nicht an die Schwerkraft.

Die meisten Initiativen des öffentlichen Sektors konzentrieren sich bisher auf die Drosselung der Nachfrage für fossile Brennstoffe. Einige Staaten legten jedoch auch Beschränkungen auf der Angebotsseite fest, und zwar im Hinblick auf die Produktion neuer fossiler Energieträger. Wussten Sie etwa, dass Costa Rica schon vor Jahren ein Moratorium für den Abbau fossiler Brennstoffe verhängt hat? Aktuell wird dort über ein Gesetz beratschlagt, dass die Erdöl- und Erdgasgewinnung dauerhaft untersagt.

Angesichts der aktuellen Lage verkündete ein großer europäischer Ölkonzern kürzlich Abschreibungen in Höhe von 17,5 Milliarden Dollar, nachdem er Öl- und Gaspreisprognosen nach unten korrigiert und mehrere langfristige Projekte gestrichen hatte. Die Begründung: Das Transport- und Reiseverhalten ändere sich, es finde eine Abkehr von fossilen Brennstoffen statt. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass CO2-Steuern und Rechenschaftspflicht Wirkung zeigen.

Als erstes Land Europas hat Luxemburg eine nachhaltige Staatsanleihe begeben und damit 1,5 Milliarden Euro aufgenommen.

Im Großen und Ganzen verstehen die meisten von uns, dass es an der Zeit ist, die Einbahnstraßenmentalität von Abbau, Produktion, Vertrieb und Entsorgung hinter sich zu lassen und mehr in Kreisläufen zu denken. Daher können wir stolz darauf sein, dass die EU mit dem Green Deal eine Führungsrolle übernommen hat, und wir sollten auch stolz auf Luxemburg sein, das als erstes europäisches Land ein beispielhaftes Rahmenwerk für Nachhaltigkeits-Anleihen eingeführt hat. Darüber hinaus hat das Großherzogtum als erstes Land Europas eine nachhaltige Staatsanleihe begeben und damit 1,5 Milliarden Euro aufgenommen. Die eine Hälfte der Einnahmen aus dieser achtfach überzeichneten Emission wird in grüne Projekte fließen, die andere Hälfte in soziale Initiativen.

Das Führen eines Unternehmens ist vor Hintergrund der derzeitigen Pandemie ein harter Job, der einem vieles abverlangt. Diejenigen Unternehmen, die diese Verantwortung umfassender wahrgenommen und sich um ihre Mitarbeiter und Zulieferer gekümmert haben, sind in der Regel besser davon gekommen. Wenn sie über die reine Pflichterfüllung hinaus Leben und Lebensunterhalt geschützt haben, hat ihr Geschäft davon profitiert.

In einem früheren Artikel zitierte ich Yuval Noah Harari, der sagte, Ökonomen sollten nicht unsere Ziele definieren. Das Gleiche gilt im Geschäftsbereich. Aktionärsrenditen sind notwendig, um Kapital zu beschaffen und das Eingehen von Risiken zu belohnen. Sie sind jedoch das Ergebnis dessen, was Unternehmen tun. Sie sollten nicht das Ziel ihrer Handlungen sein. Vielmehr führt ein fruchtbarer Fokus auf allen Interessensgruppen langfristig zu höheren Aktionärsrenditen. Investitionen in eine nachhaltige Lieferkette, die Offenlegung von Risiken in der Wertschöpfungskette, die Einkalkulierung des CO2-Preises, eine ausgewogenere Zusammensetzung der Belegschaft und die Integration von ESG-Standards machen ein Unternehmen widerstandsfähiger und rentabler. Dafür gibt es inzwischen zahlreiche Belege. Transparenz und Vertrauen sind die elementarsten Grundlagen des Erfolgs.

Transparenz und Vertrauen sind die elementarsten Grundlagen des Erfolgs.

Die Idee eines Stakeholder-Kapitalismus – dass Unternehmen nicht nur auf die Bedürfnisse ihrer Aktionäre, sondern auf die aller involvierten Interessengruppen1 reagieren sollten – findet zunehmen Anklang. In einer Welt, in der einige der größten Privatfirmen zu solchen Giganten werden, dass ihr Geldwert zum Teil sogar das BIP der allermeisten Länder übersteigt, sollten wir nicht davon ausgehen, dass der Schutz der Bürger allein Sache der Regierung ist. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, da einige der größten Länder bei der Festlegung ihrer strukturellen Prioritäten eindeutig hinterherhinken.

Eine nicht-nachhaltige Zukunft, Ungleichheit, globale Erwärmung – das möchte natürlich niemand. Für weiteres Zaudern ist keine Zeit mehr, wir müssen dringend den Weg der Widerstandsfähigkeit einschlagen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig: Nach 2030 lässt sich das Rad des Klimawandels nicht mehr zurückdrehen. Das wird sich selbstverständlich auf die wirtschaftliche Stabilität und den Wert von Investitionen auswirken.

Ein Wandel ist im Gange, durch den die Vorrangstellung der Aktionäre obsolet wird. Dem Gesetz nach soll Geld stets im Interesse des Investors und unter gebührender Berücksichtigung der Sicherheit von Kapital und Rendite angelegt werden. Aus rechtlicher Perspektive ist Nachhaltigkeit stets Teil der Gleichung. Aus finanzieller Perspektive sollte uns stets bewusst sein, dass unser Geld uns die Macht einer Stimme gibt. Wir sollten nicht dastehen und zuschauen, wie die Geschichte ihren Lauf nimmt. Wir sollten handeln und sie selbst schreiben.

Die Pandemie hat uns gelehrt, dass ein ungesunder Planet nicht die Heimat gesunder Menschen sein kann.

Die Pandemie hat uns gelehrt, dass ein ungesunder Planet nicht die Heimat gesunder Menschen sein kann. Der Zusammenhang zwischen Biodiversität, Klimawandel und Gesundheit ist eine klare wissenschaftliche Tatsache. Wir haben jetzt die Chance, unsere Volkswirtschaften wieder neu aufzubauen. Das muss unter inklusiven und nachhaltigen Gesichtspunkten geschehen. Die Weltwirtschaft ist im Wandel. Eine Neugestaltung unserer Gesundheits-, Energie-, Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme sowie der sozialen Verträge innerhalb der Gesellschaft stehen an erster Stelle. Dafür braucht es Zusammenarbeit und Führung. Das ist kein Wunschdenken. Das ist optimistisches Denken für eine regenerative Zukunft. Es ist eine riesige Herausforderung, aber es gibt ganz einfach keinen Planeten B. Unternehmen, die sich höheren Zielen verschreiben, sind langfristig durchsetzungsfähiger.

Die Zeit für eine Stakeholder-Gesellschaft ist gekommen. Gegenwärtig gibt es null Toleranz für unternehmerisches Fehlverhalten. Unternehmen, die vorangehen und die größeren Zusammenhänge in den Blick nehmen, führen uns in eine nachhaltige Zukunft. Geschwindigkeit und Umfang sind ausschlaggebend. Kooperation und Transparenz sind die wichtigsten Zutaten. Menschliche Erwägungen wieder in unser Tun mit einzubeziehen, ist das Erfolgsrezept.

Bevor Ben&Jerry‘s von Unilever2 aufgekauft wurde, hatte es eine Führungsrolle inne und war ein Vorbild für verantwortungsvolles Unternehmertum. Nicht wegen der pfiffigen Werbung, sondern wegen der entscheidenden Rolle, die die Eismanufaktur bei der Weiterentwicklung und Implementierung von Unternehmenszielen spielte. Der damalige Geschäftsführer Jerry Greenfield sagte: „Wenn du dich von deinen Werten leiten lässt, kostet es dich nicht dein Geschäft, sondern es hilft deinem Geschäft. Es steigert nicht deine Kosten, sondern deine Rentabilität.“ Das möge anfangs unlogisch erscheinen, doch es funktioniere. „Unterstützt du die Gemeinschaft, dann wird sie dich unterstützen.“ Als Pionier im Streben nach sinnvollem Unternehmertum macht die Eismanufaktur doppelt Gewinn – an Einnahmen und Menschen. Wurde es in den 1990er Jahren noch als eine Art Hippie-Unternehmen belächelt, so wird Ben&Jerry‘s jetzt als ein Paradebeispiel wahrgenommen, das zeigt, welche Rolle Stakeholder-Kapitalismus beim Wiederaufbau unserer Gesellschaft spielt. Die Bilanz: Als Bürger dieses Planeten geht der Klimawandel uns alle an.


1 Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten: alle, mit denen sie in Berührung kommen, als gleichberechtigte Stakeholder

2 Auch wenn die Übernahme durch Unilever damals kontrovers war, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Unilever derzeit als führend in Sachen verantwortungsvolles Unternehmertum wahrgenommen wird. Fast so etwas wie ein Happy End im Geschichtsbuch.