Die Geldwertillusion und ihre Gefahren für die langfristige finanzielle Sicherheit
Wir haben alle unsere ganz eigenen Illusionen rund ums Thema Geld: zum Beispiel, dass es die Quelle allen Glücks sei, oder dass viel Geld zu viel Erfüllung verhilft. Die meisten Menschen werden davon ausgehen, dass sie sich mit den Preisen von Waren und Dienstleistungen gut auskennen und sich daher vom Wert ihres Gehalts, ihrer Ersparnisse und ihrer Anlagen eine fundierte Meinung bilden können. Eine bedeutende ökonomische Theorie hält allerdings dagegen, dass dies nicht zutreffe.
Ihre Anhänger erklären, dass der Mensch vielmehr dazu neigt, den nominalen Wert von Geld (100 Euro auf dem Bankkonto) mit seinem realen Wert (kann man damit 100 oder 200 Schokoriegel kaufen?) zu verwechseln.
Der Mensch neigt dazu, an die Preise von früher zu denken, anstatt sich die heutigen Preise bewusstzumachen. Wenn ein Schokoriegel in der eigenen Erinnerung 0,50 Euro kostet, kann es eine Weile dauern zu erkennen, dass dieser Preis mittlerweile auf, sagen wir, 0,60 Euro gestiegen ist. Deshalb kann es sein, dass man glaubt, der eine Euro in der Geldbörse sei mehr wert und reiche für mehr Waren und Dienstleistungen, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Dieses Phänomen wird auch als „Geldwertillusion“ bezeichnet.
„Der Mensch neigt dazu, an die Preise von früher zu denken, anstatt sich die heutigen Preise bewusstzumachen.“
Wissenschaftlicher Disput
Das Konzept der „Money illusion“ (Geldwertillusion) erlangte erstmals in den 1920er Jahren durch den Ökonomen Irving Fisher Bekanntheit. Es war damals umstritten, und viele andere Experten vertraten die Ansicht, der Mensch könne niemals einer so eklatanten Selbsttäuschung erliegen und würde stets rational handeln. Der Mensch denke in realen Preisen, so die Gegenthese weiter, und passe seine Erwartungen in Bezug auf sein Gehalt und Vermögen entsprechend an.
Mit der Zeit schlossen sich jedoch immer mehr Ökonomen Fishers These an, und inzwischen gilt es unter Gelehrten als allgemein akzeptiert, dass dieses Phänomen tatsächlich existiert. Arbeitnehmer achten bei Lohnerhöhungen auf den nominalen Anstieg, sodass sie möglicherweise schon mit einem Plus von 2 % zufrieden sind, auch wenn die Preisinflation bei 4 % liegt. Bei einem Rückgang der Löhne um 2 % sind sie dagegen wahrscheinlich unzufrieden, selbst wenn die Preise stabil bleiben.
In beiden Szenarios ist das Ergebnis aus wirtschaftlicher Sicht identisch, Experimente zeigen aber, dass Ersteres als fair, Letzteres indes als unfair angesehen wird. Dies kann Unternehmen vor Probleme stellen, wenn sie versuchen, bei einer Deflation die Kosten zu senken. Und es ist auch einer der Gründe, warum geldpolitische Entscheidungsträger eine jährliche Verbraucherpreisinflation von 2 % oder knapp darunter statt Preisstabilität anstreben.
Auswirkungen in der realen Welt
Die Ökonomen Eldar Shafir, Peter A. Diamond und Amos Tversky lieferten weitere Belege für die Existenz der Geldwertillusion: In einer Studie von 1997 zeigten sie, dass sie das Verhalten von Unternehmen und Verbrauchern in einer Vielzahl von Situationen in der realen Welt beeinflusst.
Einer dieser Fälle ist die Preisstarrheit, das heißt, der Preis von Waren steigt möglicherweise selbst dann nur langsam, wenn die Faktorkosten sich erhöht haben. Ein Ladenbesitzer zögert unter Umständen, höhere Preise von seinen Kunden zu verlangen, auch wenn es für ihn teurer geworden ist, seine Regale wiederaufzufüllen. Man neigt dazu zu glauben, dass Inflation nur kurzzeitig vorherrscht und die Preise wieder auf das vorherige Niveau sinken werden, selbst wenn es in Wirklichkeit keine Belege dafür gibt.
Die Wissenschaftler fanden auch heraus, dass Verträge und deren Bedingungen nicht so häufig an die Inflation gekoppelt waren, wie sie es hätten sein sollen. Beispielsweise war der Preis für ein Glas Coca-Cola von rund 200 ml einmal auf 5 Cent festgelegt worden und schwankte zwischen 1886 und 1959 nur ganz leicht und lokal begrenzt.
Theoretisch sollte in jedem Zahlungsplan eine inflationsbedingte Erhöhung vorgesehen sein. Da fast alle Zentralbanken in den Industrieländern eine Inflation von bis zu 2 % pro Jahr als Ziel gesetzt haben, ist es überraschend, dass dies in den Gehaltsniveaus oder bei langfristigen Projekten nicht häufiger automatisch berücksichtigt wird.
Das könnte bedeuten, dass Arbeitnehmer keine Gehaltserhöhungen fordern, die die Inflation ausgleichen, oder zumindest nicht häufig genug um mehr Gehalt bitten, um mit der Inflation Schritt zu halten.
Steuerprogression als Falle
Das könnte also bedeuten, dass Arbeitnehmer keine Gehaltserhöhungen fordern, die die Inflation ausgleichen, oder zumindest nicht häufig genug um mehr Gehalt bitten, um mit der Inflation Schritt zu halten. Wenn die Inflation nicht (wie etwa ganz allgemein in Luxemburg) automatisch in die Entwicklung der Löhne und Gehälter einfließt, können die Kosten für Unternehmen bei der Einstellung weiterer Arbeitskräfte in Zeiten einer höheren Inflation real sogar sinken. In der Theorie würde das bedeuten, dass ein Unternehmen umso mehr Arbeitskräfte einstellen könnte, je höher die Inflationsrate ist. Doch in der Praxis ist der Effekt begrenzt und temporär.
Ein weiteres Problem ist, dass die meisten Steuersysteme eine Progression vorsehen und unterschiedlich hohe Einkommen unterschiedlich stark besteuern. Einzelpersonen zahlen vielleicht einen Steuersatz von 30 % auf Einkommen bis 30.000 Euro und von 45 % auf Einkommen über 50.000 Euro usw. Die Steuerstufen werden aber nicht immer parallel zur Inflation angehoben, und wenn doch, dann erst nachträglich.
Das bedeutet, dass Unternehmen in Zeiten einer höheren Inflation möglicherweise höhere Löhne und Gehälter zahlen, die Arbeitskräfte dann aber von der Progression erfasst werden, sodass sie unter Umständen insgesamt mehr Steuern zahlen müssen. Die Kaufkraft des verfügbaren Einkommens könnte dadurch sinken. Daher gleicht eine Lohn- und Gehaltserhöhung um 2,5 % einen Anstieg der Preise um 2,5 % nicht unbedingt aus.
Verwirrung durch die Medien
Shafir, Diamond und Tversky fanden auch heraus, dass der „gesellschaftliche Diskurs“, insbesondere in den Medien, die allgemeine Verwirrung um die Begriffe realer Wert und nominaler Wert reflektiert. Nirgends zeige sich dieses Problem deutlicher als in der Diskussion über das Sparverhalten. Im Allgemeinen betrachten Privatpersonen Bargeld noch immer als sichere Möglichkeit, um langfristig etwas anzusparen – eine Haltung, die sich in den Kommentaren zu Sparprodukten (geringes Risiko) und Investments (hohes Risiko) in den Medien widerspiegelt. Das liegt daran, dass der nominale Wert des Geldes auf einem Sparkonto leicht steigt oder gleich bleibt, was verglichen mit den schwankenden nominalen Kursen von Aktien als beruhigend wahrgenommen wird.
Wenn die Inflation die Sparerträge um 2 % pro Jahr übersteigt, sinkt der Wert eines Betrags in Höhe von 100.000 Euro innerhalb von zehn Jahren auf rund 82.000 Euro.
Doch Sparkonten sind insofern nicht „sicher“, als dass Anlegern, die einen zu großen Teil ihres Vermögens in Form von Barmitteln halten, im Alter das Geld ausgehen könnte. Wenn die Inflation die Sparerträge um 2 % pro Jahr übersteigt, sinkt der Wert eines Betrags in Höhe von 100.000 Euro innerhalb von zehn Jahren auf rund 82.000 Euro. Oder anders ausgedrückt: Die Kaufkraft eines Barbetrags von aktuell 100.000 Euro wird in zehn Jahren bei nur noch 82.000 Euro liegen.
Am Aktienmarkt ließ sich Vermögen in der Vergangenheit deutlich erfolgreicher vergrößern. Allein die Dividendenrendite von Aktien ist höher als die Inflation. Bei größeren europäischen Unternehmen liegt sie aktuell bei 3,6 %, verglichen mit einer aktuellen Inflationsrate von 1,4 %. Doch darüber hinaus haben die Unternehmen auch Kapitalwachstum erzielt. In den letzten 50 Jahren betrug die nominale Rendite im DAX 6,2 % pro Jahr.
Irrationale Ausgaben
Privatpersonen erwarten sich von ihrem Sparkonto keinen höheren Ertrag und sind im Allgemeinen zufrieden, wenn die Höhe ihres Kapitals gleich bleibt oder sehr langsam steigt, da sie nicht den langfristigen Kaufkraftverlust berücksichtigen. Spätere Ökonomen vertreten jedoch der Ansicht, dass die Geldwertillusion nur vorübergehend bestehen könne. Wer das Rentenalter erreicht, wird sehr schnell merken, dass die Kaufkraft der Ersparnisse nicht so hoch ist wie gedacht – doch dann ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen.
Die Geldwertillusion kann Menschen auch zu irrationalen Ausgabeentscheidungen verleiten. Als die europäischen Länder im Jahr 2001 den Euro einführten, zeigte beispielsweise ein Experiment in den Niederlanden, dass die Spenden an gemeinnützige Organisationen rapide stiegen. Die Theorie dahinter war, dass die Niederländer auf ein ungefähres Umtauschverhältnis zwischen Gulden und Euro von 2 zu 1 hingearbeitet hatten. Als es schließlich auf 2,2 zu 1 festgelegt wurde, fühlten sie sich wohlhabender.
Beim Umgang mit Geld muss man nicht nur auf den nominalen Wert achten, sondern auch darauf, was man in Wirklichkeit dafür bekommt. Das heißt, man muss gewährleisten, dass sein Wert nicht durch die Inflation gemindert wird, und dass es sowohl real als auch nominal vermehrt wird. Eine Wachstumsrate von 10 % bedeutet nichts, wenn die Preise um 20 % steigen. Dies zu berücksichtigen ist von wesentlicher Bedeutung, um sein Vermögen auf lange Sicht zu erhalten und zu vergrößern.