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April 26, 2024

Expertenmeinung: Das ist jetzt unser Leben

Im Juni gab es in Sachen Konjunktur erstmals wieder Lichtblicke, als viele Länder langsam aus der von den Regierungen angeordneten Starre erwachten. Allerdings sollten wir nicht davon ausgehen, dass es nach der COVID-19-Krise einfach genauso weitergeht wie davor.

Unsere Lebensweise hat sich geändert: Die Pandemie hat die digitale Revolution schneller eingeläutet als erwartet, und ihre wichtigsten Aspekte (Homeoffice, Telemedizin, eLearning usw.) werden Teile unseres Alltags bleiben. Gleichzeitig wird unsere Wirtschaft nicht mit voller Kraft laufen können, solange kein Impfstoff verfügbar ist. Aufgrund der räumlichen Distanzierung werden viele Unternehmen nicht ausgelastet sein, und Verbraucher wie Unternehmen könnten sich in Sachen Ausgaben weiterhin zurückhalten: Vertrauen schwindet schnell und kehrt nur langsam wieder zurück. All dies hat Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum.

Vertrauen schwindet schnell und kehrt nur langsam wieder zurück.

Einige sind der Ansicht, dass sich die Wirtschaft schnell wieder erholen und die Erholung v-förmig verlaufen wird. Auf den ersten Blick scheint eine solche Theorie legitim, denn schließlich war die Rezession selbst herbeigeführt worden: Anfang April hatten knapp 150 Länder alle Schulen geschlossen und Veranstaltungen absagen lassen, und über 80 Länder hatten sämtliche Arbeitsstätten geschlossen, um die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bringen. Die Menschen hörten nicht etwa auf, Geld auszugeben, weil sie es so wollten, sondern weil dies aufgrund der Ausgangsbeschränkungen physisch einfach unmöglich und zum Teil auch unnötig war (so waren z. B. Schlafanzüge für viele das Outfit der Wahl in der Modesaison Frühjahr/Sommer 2020, und gemäß Angaben von Unilever wurde zu Hause sogar weniger Deodorant verwendet).

Im Gegensatz zu früheren Rezessionen ist die aktuelle also nicht das Nebenprodukt eines wirtschaftlichen Ungleichgewichts oder eines Rückgangs des verfügbaren Realeinkommens durch steigende Zinsen, Inflation oder Steuern. Theoretisch sollten die Menschen nach dem Ende der Krise angesichts der überwältigenden staatlichen Unterstützungsmaßnahmen wieder zu ihrem normalen Ausgabeverhalten zurückkehren, während die Unternehmen wieder mit Neueinstellungen und Investitionen beginnen dürften. Die Datenlage deutet tatsächlich darauf hin, dass sich diese Theorie langsam bewahrheitet. In den USA haben die Unternehmen begonnen, wieder Personal einzustellen, in den Fabriken laufen die Maschinen wieder und bei den Verbrauchern sitzt das Geld wieder etwas lockerer. In Europa sorgten die Ergebnisse der Stimmungsumfragen für freudige Überraschung: Angeführt von Deutschland scheint sich die Wirtschaft zu stabilisieren. In China, der ersten Nation, die mit dem Virus konfrontiert war, hat sich die Industrieproduktion so gut wie normalisiert.

Wenngleich die Daten tatsächlich in die richtige Richtung tendieren, scheinen sich die Märkte in letzter Zeit in falscher Sicherheit zu wiegen – die derzeitigen Bewertungen implizieren einen Gewinnzuwachs von fast 30 % im Jahr 2021! Wir befinden uns jedoch in der tiefsten Rezession seit den 1930er-Jahren und der Weg nach oben ist steil. Wir gehen daher von einer hakenförmigen Erholung (✓) aus, d. h. einem starken Einbruch der Wirtschaftsaktivität, gefolgt von einer Stabilisierung im 3. Quartal und dem Beginn des Aufschwungs zum Jahresende 2020. Unserer Ansicht nach wird man die durch die COVID-19-Krise verursachten Vermögensverluste nicht vor Ende 2021 ausgleichen können.

Das private Sparvermögen in Europa hat den Rekordwert von 7,3 Billionen Euro erreicht.

In den Worten der Weltbank: Tiefe Rezessionen beeinträchtigen das Produktionspotenzial dauerhaft. Grund dafür sind geringere Investitionen und weniger Innovation, die Reduzierung des Humankapitals aufgrund von Arbeitslosigkeit, der Rückgang des Welthandels und die Einbußen in den Lieferketten. Oder wie es die EZB-Präsidentin Christine Lagarde ausgedrückt hat: Die wirtschaftliche Erholung wird verhalten und unvollständig sein und es wird einige Zeit dauern, bis sich der „phänomenale“ Anstieg der Ersparnisse im Konsum und den Investitionen niederschlägt: Das private Sparvermögen in Europa hat den Rekordwert von 7,3 Billionen Euro erreicht. Verbraucher und Unternehmen wurden mit Notfall-Anreizmaßnahmen von Regierungen und Zentralbanken überschüttet. Sobald dies nachlässt (die staatlichen Haushaltsdefizite können nicht ewig unkontrolliert anwachsen), könnte die Lage anders aussehen.

Langfristig gesehen wird sich unsere Lebensweise ändern und es sieht so aus, als würden wir künftig einen Großteil unseres Lebens von zu Hause aus steuern. Dank Airbnb konnte bei nicht ausreichend genutzten Immobilien von der wirtschaftlichen Flaute ordentlich profitiert werden (ungenutzte Räume/Gebäude, die nicht lange genug leer standen, um sie formell zu mieten usw.). Telearbeit wird es uns ermöglichen, die bereits vorhandenen Ressourcen noch stärker zu nutzen. Da wir normalerweise 40 Stunden pro Woche im Büro arbeiten, haben wir alle zu Hause eine Reihe von Geräten und Gegenständen, die wir nicht ausreichend nutzen (z. B. Kaffeemaschine, Computer, Tische, Stühle usw.). Wenn mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten, werden Unternehmen nicht in die Herstellung der Dinge investieren, die diese bereits haben. Gleichzeitig könnte sowohl der Bedarf an Geschäftsimmobilien als auch an mit Arbeitsstätten verbundenen Dienstleistungen (Gebäudepflege, Bewirtung usw.) zurückgehen. Und auf der anderen Seite wird die nächste industrielle Revolution unzählige Möglichkeiten für innovative Unternehmen bieten, insbesondere für solche, die sich bereits gut mit der Digitalisierung auskennen. Selbst wenn sich das Wachstum verlangsamt, könnten solche Unternehmen auch nach der Pandemie noch in eine blühende Zukunft blicken.

In Sachen Konjunkturaufschwung bewegen wir uns auf dünnem Eis. Das Coronavirus ist noch nicht besiegt und es wurden mittlerweile fast 10 Millionen Infektionen gemeldet. Außerdem entstehen neue Infektionsherde, die die Gefahr einer zweiten Welle bergen. An dieser Stelle möchten wir aus dem Roman „The way we live now“ von Anthony Trollope zitieren, an dessen Titel die Überschrift dieses Artikels angelehnt ist: Die Dicke der Eisschicht im Winter ist häufig proportional zur Zahl der Stechmücken im Sommer. Das Virus, das sich im vergangenen Winter festgesetzt hat, ist schuld an den wirtschaftlichen Turbulenzen in diesem Sommer. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Konjunkturaufschwung stabilisiert und wir so mit Blick auf den Sommer 2021 etwas optimistischer gestimmt sein dürfen.