Expertenmeinung: „Nur Saures und nichts Süßes in Form von Konjunkturanreizen“
Es war von vornherein klar, dass der Oktober ein schwieriger, volatiler Monat für die Märkte werden würde. Als er sich dem Ende zuneigte, schienen all die schönen Illusionen an den Aktienmärkten zu verpuffen, die eine der schlimmsten Wochen seit März erlebten.
Es war der letzte Monat vor den am 3. November anstehenden US-Wahlen. In diesem Monat lief die selbst gesetzte Frist für die Aushandlung eines Brexit-Deals zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich aus, welcher bei Redaktionsschluss immer noch ausstand. Gleichzeitig stiegen die COVID-Infektionszahlen weiter stark an, und viele Länder sahen sich gezwungen, erneut Beschränkungen wie Sperrstunden und Schließungen einzuführen. „Süßes“ in Form eines lang erhofften fiskalpolitischen Konjunkturpakets in den USA blieb aus.
Die Volatilität, die Ende des Monats zu beobachten war, ist zum Großteil auf die unmittelbar bevorstehenden US-Wahlen am 3. November zurückzuführen, bei denen ein Wahlsieg von Joe Biden vorhergesagt wurde, obgleich sich sein Vorsprung in den Meinungsumfragen zuletzt verringert hatte. Im Laufe des Monats erwärmten sich die Märkte für die Vorstellung eines umfassenden Wahlsiegs der Demokraten, d. h. für einen demokratischen Präsidenten und eine demokratische Mehrheit im Senat (die Partei hat bereits eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, die sie wahrscheinlich behalten wird). Auf den ersten Blick ist das widersinnig. Normalerweise passt der gläserne Schuh der Republikaner, gespickt mit Steuersenkungen und Deregulierung, genau auf die Wünsche der Wall Street. Diesmal wird jedoch ein Wahlsieg der Demokraten auf ganzer Linie als Weg des geringsten Widerstandes zu einem neuen, umfangreichen fiskalpolitischen Konjunkturpaket betrachtet. Sollte dies ausbleiben, könnte die wirtschaftliche Erholung stagnieren, da das Einkommen von Millionen US-Amerikanern und die Umsätze von Millionen US-amerikanischen Unternehmen so stark wie noch nie zurückgehen.
Da vielen US-Amerikanern gesagt wird, dass sie besser nicht in die Wahllokale gehen sollen, weil die Briefwahl während der Pandemie als sicherer gilt, könnte es einige Zeit dauern, bis die Wahlergebnisse ausgezählt, bestätigt und verkündet sind. Sobald regionale Ergebnisse bekanntwerden, könnte sogar der Anschein entstehen, dass ein Kandidat den Wahlsieg davongetragen hat, nur um diesen dann in letzter Minute wieder entrissen zu bekommen. Das schlimmste Szenario wäre ein umstrittener Wahlausgang. Donald Trump hat bereits Kritik an der Briefwahl geäußert. Wenn er sich weigert, die Ergebnisse anzuerkennen, könnte sich die Lage zu einer Verfassungskrise auswachsen. Aus diesem Grund ist die erwartete Volatilität angestiegen und wird Prognosen zufolge im Nachgang der Wahl wohl auch länger als in der Vergangenheit üblich anhalten. Letztlich sollten Anleger nicht vergessen, dass der Konjunkturzyklus wesentlich wichtiger für Wertschwankungen der Aktivaklassen ist als die Zusammensetzung der US-Regierung.
Letztlich sollten Anleger nicht vergessen, dass der Konjunkturzyklus wesentlich wichtiger für Wertschwankungen der Aktivaklassen ist als die Zusammensetzung der US-Regierung.
Wir ziehen es vor, uns auf die Fundamentaldaten zu konzentrieren, die allmählich echte Anzeichen für eine Konjunkturerholung zeigen. Das ist zwar vorrangig in China der Fall, wo das Virus unter Kontrolle ist und sich die Binnenkonjunktur nahezu normalisiert hat, doch auch in den USA, wo die Einzelhandelsumsätze sich wieder auf dem Niveau von vor der COVID-19-Krise bewegen und die Investitionsausgaben bald steigen dürften. Zudem ist die aktuelle Berichtssaison für das dritte Quartal bislang nicht so schauerlich, wie einige befürchtet hatten: 84 % der Unternehmen im S&P 500 melden unerwartet positive Zahlen. Dennoch sollten wir nicht übersehen, dass die Bewertungen angespannt sind, und wir vielleicht eine Art gute Fee brauchen, die uns baldiges Wachstum beschert, damit die Anleger nicht enttäuscht werden.
Alternativ könnte der „demokratische Märchenprinz“ Biden mit einem attraktiven fiskalpolitischen Konjunkturpaket herbeigeritten kommen – wenn das geschieht, dann werden die in den Aktienkursen eingepreisten Hoffnungen und Wünsche vielleicht tatsächlich wahr. Es gibt jedoch eine Einschränkung: Längerfristig müssen die USA mit ihrem neuen Happy End zu leben lernen, bei dem selbstverständlich zwei böse Stiefschwestern (das lästige Doppeldefizit) eine Rolle spielen…
Wie immer an den Finanzmärkten gilt auch hier: Alles ist relativ. Dieser Oktober war nicht besonders schaurig. Vor allem nicht für diejenigen unter uns, die sich noch gut an den 19. Oktober 1987 – den sogenannten Schwarzen Montag – erinnern können.