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Dezember 23, 2024

Expertenmeinung: „Von der Talsohle zum Richtfest“

Jüngste Daten legen nahe, dass die Weltwirtschaft nach ihrem Einbruch aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Lockdowns ihre Talsohle erreicht hat. Die Einkaufsmanagerindizes (Stimmungsindikatoren) haben in China, den USA und der Eurozone die „Gedeih oder Verderb“-Marke von 50 überschritten, während die Einzelhandelsumsätze (und andere hochfrequente Indikatoren wie Online-Verkehr und Kreditkartendaten) im Juni deutliche Verbesserungen erkennen ließen. Sofern die Risiken unter Kontrolle bleiben, dürfte schon bald die große Aufgabe in Angriff genommen werden, unsere Volkswirtschaften wieder aufzubauen – eine Art Marchall-Plan unserer Tage, der die Landschaft mit Gelegenheiten für langfristig orientierte Anleger überschwemmen wird. Hier kommt das Bild des „Richtfests“ ins Spiel. Richtfest feiern ist eine alte Tradition, die hier in Luxemburg immer noch aufrechterhalten wird und bei der ein Baum auf einem im Bau befindlichen Gebäude angebracht wird, um Wachstum zu symbolisieren, Glück zu bringen und „vor bösen Geistern zu schützen“.

Über der Weltwirtschaft befindet sich zwar kein Baum, aber es ist ein Wolkenbruch von haushalts- und geldpolitischen Anreizen auf sie niedergegangen, die dazu beitragen dürften, sie wieder auf Wachstumsniveaus von vor der Pandemie zu locken – ein Szenario, das wir für sehr wahrscheinlich halten, aber über einen längeren Zeitraum. Bislang hat der Schutzschirm aus geld- und haushaltspolitischen Hilfsmaßnahmen ausgereicht, um die Übel der Deflation abzuwehren. Die Schnelligkeit und der Umfang der politischen Maßnahmen haben dafür gesorgt, dass die Nachfragelücke (aufgrund der Lockdowns) erfolgreich geschlossen wurde, während die Kreditmärkte vor dem Austrocknen bewahrt wurden. Der IWF schätzt, dass weltweit Konjunkturanreize von mehr als 10 Billionen US-Dollar ausgeschüttet wurden, während auf der geldpolitischen Seite über 30 Zentralbanken die Zinsen senkten und viele von ihnen Liquidität einschossen und begannen, breite Bereiche des Anleihenmarktes aufzukaufen, und sogar vorsichtig in das Reich der Hochzinsanleihen vordrangen. Angesichts der nahezu bedingungslosen Unterstützung erfreuten sich die Aktienmärkte ihres besten zweiten Quartals seit 20 Jahren und ließen Hoffnungen erkennen, dass die schwerste wirtschaftliche Kontraktion seit Menschengedenken auch die kürzeste bleiben könnte.

Die Verbrauchernachfrage wird ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen, da Konsumausgaben vor der Krise das Rückgrat der Wirtschaft waren.

Doch auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und unsere Volkswirtschaften werden während ihres gesamten Wiederaufbaus anhaltende Unterstützung brauchen – von den Zentralbanken und den Regierungen. Die Verbrauchernachfrage wird ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen, da Konsumausgaben vor der Krise das Rückgrat der Wirtschaft waren. Denn der beispiellose Einbruch des US-BIP im zweiten Quartal war zum großen Teil durch einen Rückgang der Verbraucherausgaben um 34,6 % (annualisiert) bedingt.

Das „Richtfest“ wird in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich gefeiert: In den USA beispielsweise wird der letzte Stahlträger eines Wolkenkratzers oft weiß gestrichen und von allen beteiligten Arbeitern signiert, in den Niederlanden gibt es „Pannenbier“ (Dachziegelbier), zu dem eine nationale, regionale oder kommunale Flagge gehisst wird, wenn der höchste Punkt des Gebäudes erreicht ist, und dann wieder eingeholt wird, wenn der Eigentümer den Arbeitern Freibier spendiert, und in den nordischen Ländern wurde einst Getreide für die Pferde Odins oben auf dem Bauwerk deponiert. Ebenso sehr wie diese Traditionen unterscheiden sich auch die Wiederaufbaupakete von Land zu Land ganz erheblich:

Die US-Notenbank hat zugesichert, solange sie kann, ihr Möglichstes zu tun, um die US-Wirtschaft zu unterstützen, und „nicht einmal darüber nachzudenken, darüber nachzudenken, darüber nachzudenken“, ob sie die aktuelle Zinsspanne von 0–0,25 % anheben wird, während sie an ihrer „unbegrenzten“ quantitativen Lockerung festhält. Wenngleich es im September weitere geldpolitische Unterstützung geben könnte, wird dies nicht ausreichen, was selbst Jerome Powell eingeräumt hat. Für das Gelingen einer kräftigen Erholung wird auch haushaltspolitische Unterstützung eine entscheidende Rolle spielen. Die USA haben bereits ein Paket von einer Billion US-Dollar geschnürt, und nun scheint ein zweites zum Gegenstand einer politischen Blockade in Washington zu werden.

Europa ist es schließlich gelungen, ein gemeinsames Wiederaufbaupaket zu verabschieden, bei dem sich alle Mitgliedstaaten auf einen Deal geeinigt haben, bei dem 390 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen und 360 Milliarden Euro an niedrig verzinsten Krediten verteilt werden. Währenddessen arbeitet die Europäische Zentralbank ihr 750-Milliarden-Euro-Notkaufprogramm ab (das Pandemic Emergency Purchase Program), während der Zins für ihre Einlagefazilität fest bei -0,5 % verankert bleibt.

China hat versucht, gezieltere Maßnahmen umzusetzen, statt nach dem Gießkannenprinzip Unterstützung zu leisten. Es konzentriert sich auf direkte Unterstützung von Unternehmen, insbesondere KMU. Andere Schwellenländer hingegen können sich den Luxus einer „What ever it takes“-Politik nicht leisten, da ihnen klar ist, dass sie an den Anleihenmärkten abgestraft würden, wenn sie ihre zurückhaltende Haushaltspolitik aufgeben würden.

Wie es auf dem Weltwirtschaftsforum in jüngster Zeit hieß, erfordert der Zeitraum nach einer Katastrophe ein Höchstmaß an Vorstellungskraft, und die wird nach COVID-19 mehr gebraucht als je zuvor. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Gesellschaften nach der Coronakrise eine Kopie dessen sein werden, was sie einmal waren. Die Dinge haben sich verändert – dauerhaft. In Erwartung des großen Wiederaufbaus haben wir zwei Themen ausgemacht, die fast jeden Sektor betreffen und aus unserer Sicht die Zukunft prägen und Gewinner von Verlierern trennen werden: Nachhaltigkeit und Digitalisierung.

Nachhaltiges Investieren wird sich wahrscheinlich beschleunigen, und die Digitalisierung wird weiterhin ein wichtiges Thema beim Wiederaufbau unserer Volkswirtschaften sein.

Die Pandemie hat keine geografischen Unterschiede gemacht und ganze Gesellschaften drastisch verändert. Oft hat sie dabei Unzulänglichkeiten ans Licht gebracht, insbesondere im Hinblick auf die Just-in-time-Lieferketten, die „Gig Economy“, die Sozialversicherungssysteme und den Zugang zu Gesundheitsfürsorge. Zudem hat sie verdeutlicht, dass unsere Beziehung zur Natur eigentlich symbiotisch ist. Daher wird sich nachhaltiges Investieren (d. h. die Anwendung von ESG-Kriterien – Umwelt, Soziales und Governance) wahrscheinlich beschleunigen. Denn wir haben die einzigartige Gelegenheit, unsere Volkswirtschaften auf „die richtige Weise“ wieder aufzubauen und dabei unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Schon der Green Deal der Europäischen Union zeigt die Bereitschaft, diese seltene Gelegenheit zu nutzen, um einen Aufbau auf „die richtige Weise“ zu betreiben. Der US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden hat ebenfalls ein grünes Infrastrukturpaket mit einem Volumen von zwei Billionen US-Dollar vorgeschlagen. Wie wir in einem früheren myLIFE-Artikel bereits erwähnt haben, wird der Wandel zu einer emissionsarmen Wirtschaft bahnbrechende Veränderungen bewirken, die neue Anlage- und Renditechancen bieten.

Die Digitalisierung wird weiterhin ein wichtiges Thema beim Wiederaufbau unserer Volkswirtschaften sein. An einem bestimmten Punkt während der Pandemie unterlag ein Drittel der Weltbevölkerung in irgendeiner Form Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, und dennoch blieb die Welt greifbar, da Arbeitsplätze, Schulen, Universitäten, Einzelhändler und sogar Museen schnell ihren Betrieb in den digitalen Bereich verlagerten, um Kontinuität zu gewährleisten. In dieser Hinsicht ist es unwahrscheinlich, dass die Zahnpasta wieder zurück in die Tube geht. Big Data, Cloud Computing, Automatisierung, KI, das Internet der Dinge – all das sind Themen, die man im Auge behalten sollte. Unternehmen, die sich gegen den technologischen Wandel stemmen, könnten recht schnell antiquiert dastehen.

Wenngleich wir im Hinblick auf die Chancen, die sich aus dem Wiederaufbau unserer Gesellschaften ergeben, und auf die enormen Mengen staatlicher Gelder, die in dieses weltweite Projekt fließen, optimistisch sind, ist die Erholung dennoch Risiken ausgesetzt. Diese sind weitgehend epidemiologischer Natur. Selbst die US-Notenbank unterstrich in einer jüngsten Erklärung die Bedeutung des Infektionsgeschehens für die wirtschaftlichen Aussichten. Das ist intuitiv. Wenn das Virus sich wieder stärker ausbreitet (wie in den Sun-Belt-Staaten der USA geschehen), geraten Regierungen unter starken Druck, ihre Wiederöffnungen zurückzunehmen. Darunter würden die Unternehmensgewinne weiter leiden, und die Verbraucher müssten ihre Gürtel wieder enger schnallen. Bis zur breiten Verfügbarkeit eines Impfstoffs kann man sich nur schwer vorstellen, dass unsere Volkswirtschaften wieder normal funktionieren. Weitere bedeutende Risiken kommen aus der Politik (es bleibt noch abzuwarten, was geschieht, wenn die staatlichen Notprogramme auslaufen) und von Politikern (insbesondere in Form eines aggressiveren Tonfalls in den USA im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im November).

Aufgrund dieser Risiken ist die Zeit für ein „Pannenbier“ wohl noch nicht gekommen. Das Wegmaß der Erholung werden Quartale und nicht Monate sein. Vorerst bleiben wir in unseren Portfolios bei einer defensiven Haltung und schaffen mit Gold und Staatsanleihen ein Gegengewicht zum Aktienrisiko, während wir uns gleichzeitig auf hochwertige Titel konzentrieren, insbesondere auf diejenigen, die uns gut gerüstet erscheinen, um aus den genannten strukturellen Veränderungen Nutzen zu ziehen. Wir legen auch Wert auf Agilität und setzen das um, was wir einen „Palmen“-Ansatz genannt haben: Wenn ein starker Sturm kommt, neigt sich eine Palme mit dem Wind und sie versucht nicht, sich gegen ihn zu stemmen. Die meisten anderen Bäume brechen bei starkem Wind, weil sie zu starr sind. In einem derart ungewissen Umfeld spielt Flexibilität eine wichtigere Rolle als sonst, und wir sind auf eine Anpassung unserer taktischen Allokation vorbereitet, falls der Sand sich bewegen sollte.

In einem derart ungewissen Umfeld spielt Flexibilität eine wichtigere Rolle als sonst.