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Mai 2, 2024

Nachhaltige Finanzen: der große Graben

  Olivier Goemans myINVEST Juni 12, 2023 612

Die ökologische Wende erfordert massive Finanzmittel und kann nur gelingen, wenn alle Akteure im Finanzwesen, in der Politik und in der Wirtschaft ihren Beitrag leisten. Der Finanzsektor spielt hierbei eine wichtige Rolle. Um Teil der Lösung und nicht Teil des Problems zu sein, reicht guter Wille allein allerdings nicht aus. Fachkenntnisse und Kompetenzen zu diesen Themen müssen über gezielte Schulungen erworben werden.

Finanzfachleuten kommt bei der ökologischen Wende eine Schlüsselrolle zu. Um entsprechend handeln zu können, müssen sie sich zunächst der physischen Beschränkungen bewusst werden. Sie müssen verstehen, dass die Ressourcen endlich sind und was dies für ihre Tätigkeit bedeutet. Um die Ursachen und Folgen der ökologischen Krise zu begreifen, branchenspezifische ökologische Herausforderungen zu meistern oder die Vorschriften für nachhaltige Finanzen einzuhalten, ist ein gewisses Maß an Fachwissen erforderlich. Die Festlegung einer Anlagepolitik, die die planetaren Grenzen berücksichtigt, ist keine triviale Angelegenheit. Sind die Finanzakteure in der Lage, Bilanzrisiken unter Berücksichtigung von klimatischen Entwicklungen und Abhängigkeiten von der Biodiversität zu steuern, die Bedeutung knapper Ressourcen zu verstehen und die Auswirkungen auf die ökologische Wende zu messen?

Steigerung der Kompetenzen

Um den ökologischen Umbau voranzubringen, müssen die Verantwortlichen im Finanzsektor ihr Fachwissen in einer Vielzahl von Bereichen erweitern, mit denen sich die meisten von ihnen noch nicht vertraut gemacht oder allenfalls oberflächlich beschäftigt haben. So reicht es beispielsweise nicht mehr, zukünftig erwartete Cashflows auf ihren Gegenwartswert abzuzinsen. Angesichts des Klimawandels ist es ebenso wichtig, die mit zukünftigen Treibhausgasemissionen verbundenen Kosten zu berücksichtigen.

Eine nachhaltige Ausrichtung der Wirtschaft und des Finanzwesens ist nur mithilfe des Bildungssektors möglich. Bildung ist notwendig, damit die Transformation gelingen kann.

Neben einer soliden Grundausbildung müssen die Kompetenzen durch regelmäßige Schulungen aktualisiert und erweitert werden. Eine kurze Einführung und Sensibilisierung für das Thema reichen nicht aus, um nennenswerte Ergebnisse zu erzielen. Der Erwerb von Kompetenzen in diesen Bereichen ist ein langwieriger, aber wichtiger Prozess, der mit zunehmender Dauer immer lohnender und interessanter wird. Eine nachhaltige Ausrichtung der Wirtschaft und des Finanzwesens ist nur mithilfe des Bildungssektors möglich. Bildung ist notwendig, damit die Transformation gelingen kann.

Die Schulung von Finanzfachleuten in Sachen ökologische Nachhaltigkeit ist dabei entscheidend. Dahinter steht die dringende Notwendigkeit, die Praktiken und Instrumente im Wirtschafts- und Finanzbereich sowie die Wirtschafts- und Finanzmodelle neu zu erfinden. Die heutigen Finanzintermediäre müssen informiert und aufgeklärt sein. Finanz- und Bankenkrisen gehören im Rahmen eines klassischen Studiums im Finanzbereich längst zu den Pflichtthemen. Es wird höchste Zeit, auch die Auswirkungen des Finanzwesens auf ökologische und gesellschaftliche Belange ganz oben auf die Lehrpläne zu setzen.

Kann man sich vorstellen, dass Finanzintermediäre den ökologischen Wandel finanzieren, ohne die planetaren Grenzen und deren Auswirkungen auf Risiken und Renditen bei der Kapitalallokation zu verstehen? Wie sollen sie ohne entsprechende Kenntnisse zur Aufklärung der Kunden beitragen und sie dazu anhalten, sich über die Auswirkungen ihrer Investitionen Gedanken zu machen? Anlageberater müssen über ein umfassendes Verständnis nachhaltiger Anlagen verfügen, um ihre Kunden unter Berücksichtigung ihrer Präferenzen und Prioritäten beraten zu können.

Die Akteure in der Wirtschaft, im Finanzsektor und im Bildungswesen müssen Verantwortung übernehmen und ihren Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen leisten, die mit der Umgestaltung der Produktions- und Konsummuster verbunden sind.

Die Dinge ins richtige Verhältnis setzen

Wenn man über Treibhausgasemissionen spricht, denkt man oft an die Schwerindustrie, den Energiesektor oder den Verkehrssektor. Selbstverständlich sind die direkten Treibhausgasemissionen einer Bank, d. h. die Emissionen der Büros, der Heizungen und des Stromverbrauchs im Vergleich zu denen eines Industriebetriebs verschwindend gering. Berücksichtigt man jedoch die indirekten Emissionen aus Investitionen und Krediten der Banken, ergibt sich ein grundlegend anderes Bild. Diese Emissionen aus Finanzierungen und Anlageportfolios müssen deshalb der vorrangige Hebel für Finanzintermediäre im Kampf gegen den Klimawandel sein.

Es wird eine inkohärente Politik betrieben, und die klimabedingten finanziellen Risiken werden offensichtlich unterschätzt.

Trotz der im Rahmen des Pariser Abkommens eingegangenen Verpflichtungen, die Finanzströme auf die Eindämmung des Klimawandels und die Anpassung an seine Folgen auszurichten, besteht bei der ökologischen Transformation derzeit eine eklatante Finanzierungslücke. Gleichzeitig fließen weiterhin hohe Summen in die Finanzierung fossiler Energien. Es wird eine inkohärente Politik betrieben, und die klimabedingten finanziellen Risiken werden offensichtlich unterschätzt. Es liegt auf der Hand, dass die auf einer Kosten-Nutzen-Analyse basierenden CO2-Reduktionspfade angesichts eines festgelegten Kohlenstoffbudgets sinnlos sind. Ebenso beruhen Analysen der Kosten von Biodiversitätsverlusten auf falschen Vorstellungen über kombinatorische, exponentielle und irreversible Auswirkungen. Der Verlust der Biodiversität ist ein besonders komplexes Problem, das von den Finanzmärkten noch immer kaum verstanden wird. Denn es wird oft vergessen, dass hier – anders als bei den Treibhausgasen – Gewinne an einem Ort die Verluste an einem anderen Ort nicht ausgleichen.

Greenwashing und Kompetenz-Greenwashing

Während das Wort Greenwashing1 mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, taucht immer häufiger ein neuer Begriff auf: „Kompetenz-Greenwashing“. Dieser Ausdruck geht auf die Publikation von Professor Kim Schumacher2 „The impacts of greenwashing and competence greenwashing on sustainable finance and ESG investing“ zurück. In dieser Arbeit beschreibt Kim Schumacher die Kluft zwischen den Aussagen von Unternehmen und Finanzakteuren einerseits und andererseits ihren Ressourcen und Kapazitäten, die die Genauigkeit und Konsistenz der Wirkungsmessung gewährleisten sollen. Er weist auf den erheblichen Mangel an Kompetenz der Akteure hin.

Comic-Liebhaber wissen, dass der 25. Asterix-Band „Der große Graben“ von einem gallischen Dorf handelt, in dem Krieg herrscht und das durch einen großen Graben geteilt wird. Das Dorf ist damit ein gefundenes Fressen für den niederträchtigen Greulix, einen finsteren Manipulator mit dem Kopf eines Herings. In ähnlicher Weise fördert die von Professor Schumacher ermittelte Kluft das Greenwashing und diskreditiert die Bemühungen um einen ökologischen Wandel.

Greenwashing ist gefährlich, weil es irreführend ist und Anstrengungen zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele bremsen kann. Seine Folgen sind verheerend, weil es Zweifel schürt und die nachhaltige Finanzwirtschaft in ein schlechtes Licht rückt.

Greenwashing ist gefährlich, weil es irreführend ist und Anstrengungen zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele bremsen kann. Seine Folgen sind verheerend, weil es Zweifel schürt und die nachhaltige Finanzwirtschaft in ein schlechtes Licht rückt. Die Greulixe von heute sind Händler des Zweifels, Desinformationskünstler, Schwindler, Fake-Wissenschaftler und Wahrheitsverdreher.

Die Botschaft von Professor Schumacher muss weiterverbreitet werden. Denn es ist unerlässlich, dass Finanzfachleuten in diesen Bereichen mehr Fachkenntnisse erlangen. Es ist an der Zeit, sich für intensivere Schulungen der Finanzintermediäre in Sachen Nachhaltigkeit einzusetzen und auf die Notwendigkeit von Partnerschaften zwischen Finanzbranche und Wissenschaft hinzuweisen, um ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Zuverlässigkeit, Integrität und Konsistenz zu gewährleisten. Außerdem gilt es, Akteure im Finanzbereich zu angemessener Bescheidenheit aufzufordern und sich dafür auszusprechen, die Verwendung von Fachterminologie aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung ohne wissenschaftliche Grundlage zu verbieten. Eine Strategie für grüne Finanzen muss realistisch sein und darf nicht auf Illusionen beruhen. Sie muss konkret, transparent und ehrlich sein, ohne negative Auswirkungen zu unterschätzen oder positive Auswirkungen zu überschätzen.

1 Greenwashing steht für eine Praxis, positive ökologische Aspekte hervorzuheben, für die es keine oder keine hinreichende Grundlage gibt.

2 Kim Schumacher ist Dozent für nachhaltige Finanzen und ESG am Tokyo Institute of Technology.