Das Wachstumspotenzial eines langfristigen Anlageansatzes
Anlageexperten erinnern uns gerne daran, dass Investitionen mit einer langfristigen Perspektive getätigt werden sollten. Wenn man eine Anlage am Aktienmarkt in Betracht zieht, solle man über einen Anlagehorizont von mindestens fünf Jahren verfügen. Doch wäre es nicht besser, vor einem Abschwung auszusteigen und erneut einzusteigen, bevor die Kurse wieder anziehen?
Das wichtigste Argument für einen langfristigen Ansatz lautet, dass die Aktienmärkte auf lange Sicht zwar eine bessere Performance bieten als die Anleihenmärkte und Barmittel, diese Entwicklung jedoch nicht linear verläuft. Die Aktienmärkte können volatil sein – wie viele Anleger während der Turbulenzen im Zuge der Corona-Pandemie erfahren mussten. Eine langfristige Perspektive sorgt dafür, dass Anleger nach einem starken Kursrückgang nicht dazu gezwungen sind, Positionen zu verkaufen, sondern abwarten können, bis sich die Märkte erholen. Und das ist fast immer der Fall.
Aber handelt es sich bei der Idee, den Markt zu „timen“, nicht um eine verlockende Vorstellung? Dann könnten Anleger verkaufen, wenn den Märkten ihres Erachtens schwierige Zeiten bevorstehen, und reinvestieren, wenn der Ausblick positiver ist. Diese Idee klingt in der Theorie hervorragend, sie lässt sich jedoch nur selten in die Praxis umsetzen. Der Grund hierfür liegt darin, dass ein derartiges Verhalten der menschlichen Natur zuwiderläuft und selbst die erfahrensten Anleger vor nahezu unlösbare Herausforderungen stellt.
Herdentrieb
Anleger tendieren dazu, das Verhalten der Mehrheit zu imitieren: Sie verkaufen in schlechten Zeiten und kaufen, wenn sich die Aussichten wieder verbessert haben. Gestützt wird diese Beobachtung durch die jährliche Studie „Quantitative Analysis of Investor Behavior“ des US-Finanzdienstleisters Dalbar. Die aktuelle Ausgabe zeigt, dass im Jahr 2022, in dem Aktien und Anleihen ungewöhnlicherweise gleichzeitig an Wert verloren, der durchschnittliche Anleger sogar noch höhere Verluste als der Gesamtmarkt hinnehmen musste.
Gemäß der Studie veranlassten die Verluste in Kombination mit einem erhöhten Liquiditätsbedarf alle Arten von Investoren in den USA dazu, Gelder aus Anlagen abzuziehen, insbesondere aus Renten- und Mischfonds. Der Markt für Rentenfonds verzeichnete die größte Verkaufswelle seit 1985, Mischfonds aus Aktien und Anleihen die höchsten Nettoabflüsse seit 1994. Der Depotwert des durchschnittlichen Aktienfondsanlegers sank im Jahresverlauf um 21,17%, verglichen mit einem Rückgang von 18,11% beim S&P 500 Index.
Anleger sollten vor allem darauf achten, dass sie nicht durch den irrationalen Versuch, Verluste zu vermeiden, diese noch vergrößern.
Cory Clark, Marketingchef von Dalbar: „Die Realität ist, dass die Märkte ungefähr alle zehn Jahre einen Einbruch wie im Jahr 2022 erleben. Dennoch haben sie denjenigen, die solche Phasen geduldig ausgesessen haben, solide langfristige Renditen beschert. Es ist nicht schlimm, wenn das Portfolio im Einklang mit dem Gesamtmarkt fällt. Denn in der nachfolgenden Erholungsphase wird es auch wieder steigen. Anleger sollten vor allem darauf achten, dass sie nicht durch den irrationalen Versuch, Verluste zu vermeiden, diese noch vergrößern.“
Die Gefahr irrationaler Entscheidungen
Angst und Gier sind die Hauptgründe, warum Anleger emotionale statt rationale Entscheidungen treffen. Für erfolgreiches Market Timing sind zwei richtige Entscheidungen vonnöten: Wann man aussteigt, und wann man wieder einsteigt. Statistisch gesehen liegt die Chance, einmal richtig zu liegen, bei 50%, wohingegen die Chance, zweimal richtig zu liegen, nur noch 25% beträgt. Wiederholt man dieses Spiel über einen längeren Zeitraum, kann dies zu einem dauerhaften Vermögensverlust führen.
Wenn man sich von Marktveränderungen oder dem Anlageumfeld beeinflussen lässt, kann sich dies negativ auf die langfristigen Renditen auswirken. Denn die stärksten Kursanstiege folgen oft unmittelbar nach einem deutlichen Einbruch oder an bestimmten Tagen.
Verkaufen Anleger bei dem kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten, verpassen sie tendenziell spätere Gewinnphasen und die Chance, dass sich der Wert ihrer Anlagen zumindest teilweise erholt.
Verkaufen Anleger bei dem kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten, verpassen sie tendenziell spätere Gewinnphasen und die Chance, dass sich der Wert ihrer Anlagen zumindest teilweise erholt. Solange es so aussieht, als könnten die Turbulenzen an den Märkten anhalten, fällt es den meisten schwer, Titel zu kaufen. Mit einem langfristigen Anlagehorizont kann man die Fallstricke vermeiden, die mit dem Versuch verbunden sind, den Markt zu timen.
Die Magie des Zinseszinseffekts
Der Zinseszinseffekt (oder andere Renditearten) gehört zu den wichtigsten Faktoren beim langfristigen Vermögensaufbau. Damit dieser Effekt zum Tragen kommt, müssen Anleger ihre Investitionen jedoch ruhen lassen, sodass Dividenden vereinnahmt und Gewinne reinvestiert werden können.
Nach Angaben der britischen Investmentgesellschaft Hargreaves Lansdown wäre der Wert einer Anlage von 10.000 Pfund am britischen Aktienmarkt Ende Mai 1991 nach 30 Jahren auf 33.416 Pfund gestiegen. Bei Wiederanlage der Dividenden hätte er sich um weitere 62.576 Pfund auf insgesamt fast 96.000 Pfund im Mai 2021 erhöht.
Auch die Kosten spielen eine Rolle, da jede Gebühr grundsätzlich die künftigen Renditen mindert. In diesem Fall wirkt der Zinseszinseffekt in umgekehrter Weise, denn die Auswirkungen der Kosten auf den Wert eines Portfolios werden im Laufe der Zeit immer größer. Die beste Möglichkeit, die Transaktionskosten gering zu halten, besteht darin, Anlagen zu tätigen und zu halten, anstatt ständig Titel zu kaufen und zu verkaufen.
Man kann sich von dem unablässigen Strom von Marktmeldungen leicht beeinflussen lassen und etwa aufgrund von Wirtschaftsdaten oder hitzigen Wortgefechten zwischen Vertretern der USA und Chinas Wertpapiere erwerben oder veräußern. Dies führt jedoch zu höheren Handelskosten und schmälert langfristig den tatsächlichen Wert von Anlagen. Wenn Anleger ihr Portfolio umschichten, müssen sie daher so sicher wie möglich sein, dass die potenziellen Gewinne die Handelskosten übersteigen.
Irrationalität ausnutzen
Die Aktienmärkte verhalten sich tendenziell kurzfristig irrational und langfristig rational. Die Haltedauer von Anlegern wird insgesamt immer kürzer und lag 2021 bei Einzelaktien in den USA im Durchschnitt bei 10 Monaten, verglichen mit 5 Jahren in den 1970er-Jahren. Dies eröffnet geduldigen Anlegern Chancen. Denn weil die Kurse nicht immer den tatsächlichen Wert eines Unternehmens widerspiegeln, können Anleger von irrationalen Schwankungen profitieren.
Darüber hinaus verfolgen viele Anleger langfristige Ziele, wie etwa die Altersvorsorge, die Finanzierung des Studiums der Kinder oder den Kauf eines Zweitwohnsitzes. Panikreaktionen aufgrund kurzfristiger Marktschwankungen lenken nur von diesen Zielen ab. Sofern ein Anleger über einen ausreichend langen Anlagehorizont verfügt, ist es in Wahrheit unwahrscheinlich, dass er seine Ziele wegen kurzfristiger Volatilität an den Aktienmärkten verfehlt.
Man sollte sich stets fragen, über welchen Zeitraum eine Investition wachsen soll und wie viel Geld man am Ende des geplanten Anlagezeitraums zur Verfügung haben möchte.
Man sollte sich stets fragen, über welchen Zeitraum eine Investition wachsen soll und wie viel Geld man am Ende des geplanten Anlagezeitraums zur Verfügung haben möchte. Die Antworten auf diese Fragen bieten einen guten Anhaltspunkt dafür, wie viel Risiko man bei seinen Anlagen eingehen kann. Dabei sollte das Risikoniveau jedoch nicht höher als nötig sein.
Allgemein gesagt steigt die Rendite mit der Länge des Anlagezeitraums. Dies bedeutet zwar nicht, dass Privatanleger einmal getätigte Anlagen völlig ignorieren können – denn sie müssen überprüfen, ob sich diese weiterhin gut entwickeln und ob sie nach wie vor mit ihren langfristigen Zielen im Einklang stehen. Strategien, die darauf abzielen, Titel zu erwerben und über einen längeren Zeitraum zu halten, erweisen sich jedoch in der Regel als besonders rentabel.