Die Illusion des perfekten Market Timing
Erfolgreich anzulegen scheint auf den ersten Blick eine grundlegend einfache Sache: Man sollte regelmäßige, langfristige Einlagen tätigen und sich nicht dazu hinreißen lassen, die Marktbewegungen vorauszusagen. Der Fallstrick liegt allerdings darin, dass viele Anleger diesen Ratschlag nicht befolgen: Sie sind überzeugt, dass sie ihre Anlagen bei fallenden Märkten gewinnbringend verkaufen können und einfach wieder einsteigen, wenn sie mit einer Erholung rechnen. Diese Einstellung kann jedoch eines der größten Hindernisse beim Aufbau eines langfristigen Vermögens darstellen.
Aufgrund der Turbulenzen an den weltweiten Aktienmärkten seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang 2020 ist das Thema Market Timing heute aktueller denn je. Nachdem die weltweiten Lockdowns die Anleger in Panik versetzt und zu deutlichen Kurseinbrüchen geführt hatten, verbesserten sich die Bewertungen in den Folgemonaten erheblich. Seither stiegen und fielen die Kurse im Zuge der wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs, der schwankenden Ölpreise, dem höchsten Stand von Inflation und Zinsen seit zwei Jahrzehnten, der Rezessionsängste und der Hoffnungen auf eine „sanfte Landung“.
Die Flaute an den Aktien- und Anleihenmärkten im Jahr 2022 führte dazu, dass die Nettozuflüsse in europäische OGAW und alternative Investmentfonds größtenteils negativ waren. Gemäß dem Investmentfonds-Verband European Fund and Asset Management Association beliefen sich die Nettorücknahmen in den ersten neun Monaten des Jahres auf nahezu 350 Milliarden Euro, da die Anleger auf die niedrigeren Preise mit Verkäufen reagierten. Angesichts der besseren Perspektiven im vierten Quartal stiegen die Nettozuflüsse jedoch wieder auf 74 Milliarden Euro.
Dies scheint zunächst widersprüchlich. Denn warum sollten Anleger bei niedrigeren Preisen verkaufen und bei steigenden Preisen kaufen wollen? Neben Autos und Immobilien gibt es wenige andere Bereiche, in denen Menschen tendenziell eher bei höheren Preisen kaufen, als nach besonders günstigen Angeboten zu suchen. Wenn es um Anlagen an den Aktienmärkten geht, sind jedoch starke psychologische Kräfte am Werk.
Kann Arbitrage funktionieren?
Forscher aus dem Bereich der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung haben im Rahmen umfangreicher Studien untersucht, warum Anleger irrational vorgehen und bei niedrigen Kursen verkaufen und erneut einsteigen, wenn die Kurse wieder hoch sind. In der Theorie sollte sich durch die Bestimmung des jeweils günstigsten Ein- und Ausstiegszeitpunkts ein maximaler Gewinn erzielen lassen. Ein Anleger wiederum, der clever genug war, im März 2009 angelegt zu haben, als die Märkte infolge der globalen Finanzkrise an ihrem Tiefpunkt waren, hätte im Laufe der darauffolgenden Jahre beachtliche Gewinne realisiert.
John Authers von der Financial Times schrieb 2017: „Das Argument lautet, dass man mit erfolgreichem Market Timing reicher als in seinen kühnsten Träumen werden kann. Denn die langfristigen Renditen des Aktienmarkts konzentrieren sich auf wenige Tage.“ Unter Berufung auf Javier Estrada von der IESE Business School führte er an, dass Anleger, die im Laufe von 40 Jahren die besten zehn Tage des Markts verpassen, rund die Hälfte ihrer Kapitalerträge einbüßen. Vermeidet man hingegen die zehn schlechtesten Tage, wäre der Gesamtertrag über diesen Zeitraum zweieinhalb Mal so hoch gewesen.
Das Problem dabei ist, dass man erst im Nachhinein immer klüger ist. Die überwiegende Mehrheit der Anleger schichtet selten zum richtigen Zeitpunkt um, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie dies zum schlechtesten Zeitpunkt tun, d.h. dass sie bei Höchstständen kaufen und bei Tiefständen verkaufen. Anleger verfallen leicht in Panik und sind schnell davon überzeugt, dass jede Marktkorrektur der Beginn eines langfristigen Abwärtstrends ist.
Schlechte Vorhersagefähigkeiten
Der erfahrene amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson stellte 1982 fest: „Der Aktienmarkt hat neun der letzten fünf Rezessionen vorhergesagt.“ Laut Jacques Gordon, ehemaliger Global Head of Research and Strategy von LaSalle, waren es 2019 bis zu dreizehn der letzten neun Abschwünge. Wenn man beim geringsten Anzeichen von Panik verkauft, verpasst man möglicherweise eine Erholung der Aktienkurse oder laufende Dividendenerträge. Dies ist ein ernstzunehmendes Problem, denn die Märkte haben die Angewohnheit, nach plötzlichen Ausverkäufen wieder rapide anzusteigen, wie dies etwa 2020 der Fall war.
Gemäß dem US-Vermögensverwalter Putnam Investments konnten Anleger, die Ende 2002 10.000 US-Dollar in den S&P 500 Index investierten und in dieser Anlage während der darauffolgenden 15 Jahre vollständig investiert blieben, einen Anstieg auf 41.333 US-Dollar erzielen. Dies ist knapp das Doppelte des Ergebnisses, das Anleger, die in diesem Zeitraum die 10 besten Tage des Marktes verpasst haben, erzielt hätten (20.873 US-Dollar).
In vielen Fällen, so Putnam, folgten die „besten Tage“ unmittelbar auf einen Ausverkauf, wie beispielsweise im Falle der dreitägigen Rally im Anschluss an den dramatischen Einbruch nach dem Votum Großbritanniens für einen EU-Ausstieg 2016 oder der vorübergehenden Panik am Markt, als Standard & Poor’s 2011 das Rating US-amerikanischer Staatsanleihen herabgestuft hatte.
Das zentrale Problem, so sind sich die Verhaltensforscher einig, besteht darin, dass sich Anleger gezwungen sehen, der Herde zu folgen (…), auch wenn es wesentlich lohnenswerter sein kann, gegen den Strom zu schwimmen.
Über Herdenverhalten und Selbstgefälligkeit
Das zentrale Problem, so sind sich die Verhaltensforscher einig, besteht darin, dass sich Anleger bei ihren Entscheidungen dazu gezwungen sehen, der Herde zu folgen. Zu Zeiten, als der Mensch noch in der afrikanischen Savanne auf Jagd ging, war Herdenverhalten noch durchaus sinnvoll, da es einen besseren Schutz vor Fressfeinden ermöglichte. Doch wenn es um das Thema Investieren geht, wo es wesentlich lohnenswerter sein kann, gegen den Strom zu schwimmen, ist dieser tief verwurzelte Instinkt nicht mehr sonderlich hilfreich.
Der Mensch neigt nicht nur zur Überreaktion auf positive oder negative Meldungen, sondern er überschätzt auch gerne seine Fähigkeit, künftige Marktbewegungen vorherzusagen. Dieses Phänomen ist aus anderen Lebensbereichen bekannt: 82% der jungen Autofahrer in den USA würden sich selbst in Sachen Sicherheit den besten 30% ihrer Gruppe von Befragten zurechnen, und analog dazu überschätzen Unternehmer die Erfolgsaussichten ihres Unternehmens gewaltig.
Untersuchungen aus dem Bereich der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung legen nahe, dass sich die Tendenz zur Überreaktion unter Belastung und bei höherem Einsatz sogar besonders zuspitzt, so beispielsweise bei nahendem Ruhestand, dem Treffen wichtiger Entscheidungen für seine Kinder oder in Zeiten unsicherer Konjunkturbedingungen, wenn die Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten.
Folgen von Fehlentscheidungen
Diese Verhaltenszüge haben konkrete finanzielle Auswirkungen. Das US-amerikanische Beratungsunternehmen Dalbar hat in seiner jährlichen Studie „Quantitative Analysis of Investor Behavior“ mehrfach gezeigt, dass Anleger gewohnheitsmäßig falsche Entscheidungen treffen und dadurch Geld verlieren. Das bedeutet, sie erhalten nicht die ausgewiesenen Renditen der Fonds, in die sie investieren, sondern mehrere Prozentpunkte weniger, da sie die Angewohnheit haben, zum falschen Zeitpunkt zu kaufen und zu verkaufen.
Gemäß Dalbar beträgt die über 20 Jahre annualisierte Rendite der Aktien des S&P 500 mehr als 8%, wohingegen der durchschnittliche Anleger lediglich eine Rendite von rund 4,7% erwirtschaftet. Wenn sich diese Differenz nun über einige Jahre hinweg kumuliert, kann dies einen deutlichen Unterschied in Bezug auf die Höhe des langfristigen Kapitals machen. Wächst eine Anlage von 50.000 Euro über 20 Jahre um 8% an, so ergibt sich daraus ein Endkapital von 233.048 Euro, wohingegen es bei einem Wachstum um 4,7% lediglich 125.286 Euro wären.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass bei der Arbitrage durch den Kauf und Verkauf von Anlagen Kosten anfallen, die ebenfalls die Renditen schmälern. Ganz zu schweigen von den Opportunitätskosten, die dadurch entstehen, dass man nicht mehr im Markt investiert ist.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass bei der Arbitrage durch den Kauf und Verkauf von Anlagen Kosten wie Makler- und sonstige Transaktionsgebühren anfallen, die ebenfalls die Renditen schmälern. Ganz zu schweigen von den Opportunitätskosten, die dadurch entstehen, dass man nicht mehr im Markt investiert ist. Nur wenige Anleger berücksichtigen diese Kosten bei ihren Anlageentscheidungen. Doch 0,5% mehr oder weniger hier und da können im Laufe der Zeit einen deutlichen Unterschied machen, insbesondere wenn die Umschichtung keine nennenswerten Erträge bringt.
Investiert bleiben
Die Struktur der Investmentbranche trägt verhältnismäßig wenig dazu bei, die Anleger dazu zu animieren, ihr Marktexposure aufrecht zu halten. Wenn überhaupt, dann scheinen einige Sektoren bestrebt, das Market Timing so schnell und effizient wie möglich zu machen, anstatt auf Rentabilität zu achten. So können börsengehandelte Fonds (ETFs) etwa wie Aktien in Minutenschnelle gehandelt werden, was zu übertrieben häufigen Umschichtungen verleitet.
Einige Fondsgesellschaften haben daher Gebührenstrukturen geschaffen, die den Anlegern Anreize bieten, in schwierigen Zeiten investiert zu bleiben, wie beispielsweise in Form einer niedrigeren Jahresgebühr bei Martktturbulenzen oder bei schlechter Wertentwicklung des Fonds gegenüber dem Referenzindex. Obwohl diese Maßnahmen oftmals kompliziert sind, können sie eine willkommene Abwandlung des Standardgebührenmodells darstellen und Anleger ermuntern, Vermögenswerte nicht unüberlegt zu kaufen und zu verkaufen.
So deutet also unter dem Strich alles darauf hin, dass der erfolgreichste Weg zum Vermögensaufbau letztendlich darin besteht, regelmäßige Beträge anzusparen, das Portfolio richtig auf die eigenen langfristigen Ziele auszurichten … und es einfach so zu belassen! Das Streben nach perfektem Market Timing ist und bleibt ein erfolgloses Unterfangen.
Dieser Artikel gehört zur Aufzeichnung Artikelserie „Verhaltensökonomie“
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